Deshalb steht Frankreich trotz Minimalismus im Halbfinale

Die französische Nationalmannschaft geizt bei der Fußball-EM 2024 mit Toren. So kommt die Equipe Tricolore nach ihren ersten fünf Spielen zusammengerechnet auf drei Treffer - ein Elfmeter und zwei Eigentore. Dennoch steht der Mitfavorit im Halbfinale und könnte die Europameisterschaft mit einem schmeichelhaften Rekord gewinnen.
"Wir wollen gewinnen, darum geht es doch. Dafür ist es egal, ob man drei oder 15 Tore schießt", entgegnet Aurélien Tchouameni der Kritik über die Spielweise der französischen Equipe Tricolore. Der Erfolg gibt dem 24-jährigen Mittelfeldmann von Real Madrid recht, knapp zwei Wochen vor der EM gewann er die Champions League. Ebenfalls häufig ohne Glanz und Gloria. Erfolgsorientiert beschreibt Tchouameni und seine Teamkollegen bei der EM-Endrunde wohl am treffendsten.
Während Medien und Experten den gallischen Hahn zerrupfen, bleibt Erfolgscoach Didier Deschamps gelassen. Und ist mit den Leistungen sogar zufrieden. "Ich bin sehr stolz darauf, was wir gemacht haben", bilanzierte er nach dem glanzlosen 1:0 über Belgien im EM-Achtelfinale und sprach sogar von einem tollen Spiel.
Nur ein Gegentor per Elfmeter
In der Tat würden sich andere Nationen darum reißen, defensiv derart kompakt zu stehen. Ein einziges Gegentor kassierten Les Bleus in 480 Turnierminuten. Und dieses resultierte aus einem Elfmeter von Robert Lewandowski beim 1:1 in der Gruppenphase gegen Polen. Kein Gegentor aus dem Spiel heraus also - das ist eine besondere Art von Verteidigungskunst.
Getreu dem Motto "Defense wins Championships" hat die französische Defensive um Bayerns Dayot Upemacano ein Bollwerk errichtet, das kaum etwas zulässt. 44 gegnerische Schüsse sind die wenigsten aller Viertelfinalisten. Und wenn doch mal ein Ball auf das Tor von Mike Maignan kam, war dieser zur Stelle: Knapp 94 Prozent der gegnerischen Schüsse entschärfte der Schlussmann von AC Mailand. Laut dem Expected-Goals-Modell hätte Frankreich im Turnierverlauf eigentlich fast fünf Gegentore kassieren müssen. Ein bisschen Glück und das Können von Maignan waren also auch dabei.
86 französische Abschlüsse ohne Tor
Defensiv agierte die Mannschaft von Didier Deschamps kompakt wie eh und je. Doch im Vorwärtsgang ist Frankreichs Spielweise äußerst konservativ. Les Bleus haben weder viel Ballbesitz (nur knapp 52 Prozent), noch legt man besonderen Wert auf intensives Pressing. Vor allem nicht in der Hälfte des Gegners: Nur 15 Ballgewinne im offensiven Spielfelddrittel sind die wenigsten aller Mannschaften, die das Viertelfinale erreichten.
Ein großes Rätsel ist jedoch, was Frankreichs Offensive um die Superstars Kylian Mbappé, seit dem ersten Gruppenspiel mit einem Nasenbeinbruch gehandicapt, oder Antoine Griezmann aus seinen Möglichkeiten macht. Mit gerade einmal drei Toren erreichte Frankreich das Halbfinale - zweimal profitierte man von einem Eigentor, einmal traf Mbappé vom Punkt. Kein von einem Franzosen erzieltes Tor fiel also aus dem Spiel heraus. Kaum zu glauben, gemessen an der Qualität im Kader.
Datenanbieter Opta ermittelte 86 eigene Abschlüsse (ohne Elfmeter), von denen Frankreich keinen einzigen im Tor unterbrachte - das ist Negativrekord seit Erfassung dieser Daten!
Schmeichelhafter EM-Rekord winkt
Die Chancenverwertung von lediglich 4,8 Prozent ist die schwächste aller EM-Teilnehmer. Dass Frankreich vor dem Tor wenig europameisterlich agiert, zeigen auch die Expected Goals: Denn gemäß dieser Statistik hätte der Europameister von 2000 fünf Tore mehr erzielen können, die größte Diskrepanz im Teilnehmerfeld. Sinnbildlich dafür steht auch Mbappé, der bei 20 Abschlüssen nur einmal jubeln durfte - und das vom Elfmeterpunkt.
Eine Leistungsexplosion mit Spektakel-Fußball ist auch im Halbfinale gegen Spanien nicht zu erwarten. Schließlich ist Frankreichs Minimalismus höchst erfolgreich - und könnte einen Eintrag in die Rekordbücher schaffen. Die Europameister mit den wenigsten erzielten Toren sind bis dato Deutschland (1980) und Dänemark (1992), die den Titel mit jeweils sechs Toren holten. Halbfinalist Frankreich steht bei deren drei ...
Lars Wiedemann