Hat sich der BVB mit Sahin verzockt?

Bei Borussia Dortmund schrillen derzeit alle Alarmglocken, die Ernennung von Klub-Ikone Nuri Sahin zum Trainer droht zur Zerreißprobe zu werden. Hat sich der BVB verzockt?
Eine Analyse der wechselhaften Saison 2023/24, in der Borussia Dortmund in der Liga und im Pokal zu häufig Schwächen zeigte, in der Champions League allerdings sensationell das Endspiel erreichte (0:2 gegen Real Madrid), gipfelte Mitte Juni darin, dass Coach Edin Terzic verkündete, er trete von seinem Amt zurück, da er "das Gefühl habe, dass der anstehende Neustart von einem neuen Mann an der Seitenlinie begleitet werden sollte".
Wenig später bestätigte der BVB das offene Geheimnis, das es sich bei besagtem "neuen Mann" um Nuri Sahin handele, den die schwarz-gelbe Führungsriege infolge eines schwachen Abschlusses der Hinrunde bereits als Co-Trainer an Terzics Seite bestimmte. Dass der 36-Jährige zuvor in den Medien schon als "Schattentrainer" bezeichnet wurde und nicht wenige Experten einen von langer Hand geplanten Schachzug witterten, verlieh der Entscheidung durchaus ein Geschmäckle. Rund viereinhalb Monate später sind die süßen Hoffnungen endgültig einer bitteren Wahrheit gewichen: Der BVB hat sich verzockt.
Nachdem Sahin, auch wenn die Ergebnisse das Spielgeschehen teils etwas verzerrten, einen guten Start in seine erste große Trainerstation aufs Parkett legte, offenbarte das erschütternde 1:5-Debakel beim VfB Stuttgart am 22. September erstmals so richtig, dass der BVB und Sahin noch arge Anpassungsschwierigkeiten haben.
Klar, in der Folge feierte man einen 4:2-Heimsieg gegen Kellerkind VfL Bochum, zur Wahrheit gehört jedoch, dass man schnell 0:2 hinten lag und Bochum die Chance aufs 0:3 leichtfertig verschenkte. Das 7:1 gegen Celtic Glasgow in der BVB-Spezialdisziplin Champions League ließ die Kritiker kurz schwärmen - dann folgte das böse Erwachen.
Ein 1:2 bei Union Berlin, ein 2:1-Arbeitssieg vor heimischer Kulisse gegen den FC St. Pauli, eine 2:5-Demontage gegen Real Madrid, in der man zur Halbzeit 2:0 führte, ein 1:2 beim FC Augsburg und zuletzt das erschreckende Pokal-Gestolpere bei einem VfL Wolfsburg, der bei seinem 1:0-Erfolg ebenfalls maximal fußballerische Magerkost anbot - Ergebnisse einer alarmierenden schwarz-gelben Krise.
BVB-Boss zählt Sahin an
Klar, personell geht man am Stock, gegen Wolfsburg saß mit dem angeschlagenen Marcel Sabitzer zum Beispiel nur ein Feldspieler mit nennenswerter Profi-Erfahrung auf der Ersatzbank, die Elf auf dem Rasen war allerdings keineswegs eine Nobody-Auswahl, der Gegner infolge einer ewigen Heim-Misere zudem vollkommen verunsichert. Genutzt hat es wenig: Sieht man von einer frühen Topchance ab, bot der BVB meist ein erschreckendes Bild.
Besonders bitter: Sahin schien, wie schon gegen Real und Augsburg, als seine Maßnahmen im besten Fall verpufften, keine Impulse vom Spielfeldrand geben zu können. Ein Vorwurf, der umso schwerer wiegt, da er bereits Terzic bei schwächeren Spielen angelastet wurde. Unter Sahins Vorgänger kam der BVB nicht selten auffallend blutleer aus der Kabine.
Kein Wunder also, dass in Dortmund langsam aber sicher die Überzeugung bröckelt, dass Sahin altbekannte Borussen-Baustellen beseitigen kann. Nach der Pleite in Wolfsburg setzte es erstmals deutlich negative Töne vonseiten der Kluboberen, als Sportchef Lars Ricken betonte: "Ein Titel ist weg. Hinter 'Wir brauchen Zeit' werden und dürfen wir uns nicht verstecken", und Sahin zudem nachhaltig daran erinnerte, dass die Qualifikation für die Champions League die Messlatte für jeden BVB-Trainer sei.
Darum muss man Sahins BVB-Tauglichkeit hinterfragen
Allerdings muss sich natürlich auch Ricken hinterfragen, der mit Ex-Meisterheld Sahin zwar reichlich BVB-DNA, aber letztlich wenig Erfahrung an die Seitenlinie der Dortmunder beorderte.
Sahin betreute zuvor lediglich den türkischen Erstligisten Antalyaspor, bei dem seine Karriere von 2020 bis 2022 ausklingen ließ und schon währenddessen zeitweise die Zügel übernahm. Dort waren die Erwartungen überschaubar, der Erfolg ansprechend - nicht mehr.
Dass er Fußball in all seinen Facetten versteht, wird dem ehemaligen Mittelfeld-Leitwolf natürlich niemand absprechen, dieses Wissen erfolgreich zu vermitteln, ist allerdings noch ein ganz andere Sache.
Zumal Sahins Vita zwar bemerkenswert ist, gerade den Stars ohne großen Bezug zum Klub aber kaum Ehrfurcht einflößen wird. Als echtes Eigengewächs führte Sahin den BVB zur Meisterschaft 2011, bei Real Madrid 2011/12 oder dem FC Liverpool 2012 bis Januar 2013 bekam der türkische Nationalspieler allerdings kein Bein auf den Boden. Letztlich folgten die Rückkehr zur Borussia, mit der er 2017 als Nebendarsteller noch einmal den Pokal gewann und der Ausklang der Karriere bei Werder Bremen und Antalyaspor.
Zum Vergleich: Bayerns ebenfalls unerfahrener Neu-Trainer Vincent Kompany prägte den Aufstieg von Manchester City zu einer echten Fußball-Macht und gewann mit den Cityzens zwölf Titel. Eine Vita, die seinen Worten zusätzlich Gehör verschaffen dürfte.
BVB gegen RB Leipzig enorm unter Druck
Dass eine erfolgreiche Spielerlaufbahn längst keine Voraussetzung für eine große Trainerkarriere mehr ist, steht natürlich außer Frage. Die Julian Nagelsmanns, Sebastian Hoeneß' und Co., auch Terzic lässt grüßen, dieser Welt haben sich allerdings allesamt zuvor in niederen Ligen oder dem Jugendfußball einen Namen gemacht und einen Ruf erarbeitet.
Der Verdacht, dass sich der BVB mit Sahin mächtig verzockt hat, der Klub für Sahin schlicht (noch) eine Nummer zu groß ist, drängt sich immer stärker auf. Sollte es am Wochenende (Samstag, 18:30 Uhr) gegen den Tabellenzweiten RB Leipzig auch zuhause eine Enttäuschung setzen, dürfte die Luft immer dünner werden. Mit Blick auf die letzten Leistungen gibt es allerdings wenig Anlass zur Hoffnung.