10.10.2022 16:09 Uhr

Warum Bellingham und Sané ohne Platzverweis davonkamen

Bellingham (M.) stand beim Spiel BVB gegen den FC Bayern im Fokus
Bellingham (M.) stand beim Spiel BVB gegen den FC Bayern im Fokus

Borussia Dortmund und FC Bayern im Duell ohne Schiri-Diskussion? Unmöglich. Auch dieses Mal ist der Unparteiische im Gespräch. Im Mittelpunkt steht ein nicht gegebener Feldverweis für BVB-Star Jude Bellingham. Deniz Aytekin zeigt dabei Verständnis für seine Kritiker.

Wie viel nach dem Schlusspfiff eines Spiels über den Schiedsrichter diskutiert wird, hängt naturgemäß nicht zuletzt davon ab, ob dieser aus der Sicht der beteiligten Teams einen wesentlichen Einfluss auf den Verlauf und den Ausgang der betreffenden Partie genommen hat. In den Spielen zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern München war es in den vergangenen Jahren regelmäßig der BVB, der nach einer Niederlage öffentlich Klage über Entscheidungen der Unparteiischen führte. So etwa in der vergangenen Saison, als die Referees Felix Zwayer und Daniel Siebert aus dem Dortmunder Lager dafür kritisiert wurden, den Schwarz-Gelben im Hin- und im Rückspiel jeweils einen Strafstoß verweigert zu haben.

Am Samstagabend hätte nach dem Ende der Begegnung im Dortmunder Stadion vermutlich kaum jemand etwas Negatives über Schiedsrichter Deniz Aytekin geäußert, wenn Anthony Modeste nicht in buchstäblich letzter Sekunde noch der Ausgleich für die Gastgeber zum 2:2 gelungen wäre. So aber waren es diesmal die enttäuschten Bayern, die auf eine Szene kurz vor der Halbzeitpause zu sprechen kamen, in der Jude Bellingham im Kampf um den Ball seinen Gegenspieler Alphonso Davies mit der Schuhspitze am Kopf getroffen hatte, ohne dafür mit einer persönlichen Strafe bedacht worden zu sein.

Nicht nur nach Ansicht des Münchner Trainers Julian Nagelsmann hätte der schon verwarnte Bellingham dafür mindestens die Gelbe Karte verdient gehabt, was in der Summe Gelb-Rot und damit Überzahl für den Rekordmeister bedeutet hätte.

Aytekin selbst erklärte ausführlich, warum er auf den Feldverweis verzichtet hatte. Im Interview des Senders "Sky" sagte er, die Verwarnung gegen Bellingham nach 13 Minuten sei in der hektischen Anfangsphase der Begegnung erfolgt, nachdem mit Marcel Sabitzer und Mathijs de Ligt bereits zwei Münchner nach Foulspielen die Gelbe Karte bekommen hatten. Die Sanktion sollte vor allem zur Beruhigung der Partie dienen und sei eine Kann-, aber kein Muss-Entscheidung gewesen.

Mit dieser Vorgeschichte habe ihm dann kurz vor der Pause "die letzte Überzeugung gefehlt", Gelb-Rot zu zeigen und damit womöglich entscheidend ins Spiel einzugreifen. Einen Ermessensspielraum sah der Unparteiische dadurch gegeben, dass Davies sich Bellingham von hinten und mit etwas gesenktem Kopf genähert habe. Soll heißen: Der Dortmunder konnte den Gegner nicht sehen und musste nicht damit rechnen, dass er ihn am Haupt treffen würde.

BVB vs. FC Bayern: "Isoliert betrachtet ist es eine Gelbe Karte"

In der Sendung "Doppelpass" erklärte Aytekin: "Wenn man diese Szene ganz isoliert betrachtet und ohne Emotionen, dann ist es eine Gelbe Karte. Aber von uns Schiedsrichtern wird ja auch immer eine gewisse Empathie und ein Gefühl für die Situation erwartet."

Bellingham habe Davies nicht mit Absicht getroffen, "und dann bist du als Schiedsrichter geneigt zu überlegen: Habe ich noch einen Restspielraum, um ihn zu nutzen?" Diesen minimalen Spielraum habe es gegeben, so der Referee, aber womöglich habe er in dieser Situation auch "einen Tick zu viel Empathie" gezeigt. Er verstehe jeden Bayernfan, der sage, das sei eine Gelbe Karte.

Was Deniz Aytekin damit ansprach, war das Spannungsfeld, in dem sich das Regelwerk und seine Auslegung, der Spielkontext sowie die generelle Spielführung des Schiedsrichters und dessen taktischer Umgang mit Ermessensspielräumen befinden. Eine Spielleitung ist mehr als die Summe der einzelnen Entscheidungen, die sich auch zu einem großen Ganzen zusammenfügen müssen, zu einer Linie, die zum Spielcharakter passt. Auch ein Unparteiischer hat einen Matchplan, gerade in einem großen Spiel wie diesem, dessen Bedeutung schon durch die weltweite Aufmerksamkeit herausragt – und das gerade in der jüngeren Vergangenheit seine eigenen Geschichten geschrieben hat, in denen auch den Referees ungewollt eine tragende Rolle zukam.

Warum Aytekin seine Linie änderte

Mit dem 44-jährigen Aytekin pfiff dieses stets brisante Aufeinandertreffen deshalb einer der unbestritten besten, beliebtesten und erfahrensten Unparteiischen des Landes. Aytekins große Stärke liegt in seiner Persönlichkeit, er löst Konflikte gerne – und meist sehr erfolgreich – mit Kommunikation statt mit Karten. Und er ist ein Spielleiter, der nicht bloß technisch entscheidet, sondern sein Ermessen, sofern es regeltechnisch möglich ist, immer auch danach ausrichtet, was das Spiel erfordert und was ihm somit dienlich ist. In Dortmund zeigte Aytekin die erste Gelbe Karte allerdings bereits nach anderthalb Minuten, nach nicht einmal einer Viertelstunde waren bereits drei Akteure verwarnt. Das ist ungewöhnlich.

Dabei war es offensichtlich, dass die dritte Gelbe Karte, jene für Bellingham, eher aus der schiedsrichtertaktischen Überlegung erwuchs, bei den persönlichen Strafen nach zwei Verwarnungen gegen Bayern-Spieler die erste halbwegs passende Gelegenheit zu nutzen, um in die Balance zu kommen. Doch Bellingham hatte im Zweikampf mit Jamal Musiala vor allem den Ball gespielt, und Musialas Sturz sah schlimmer aus, als es das Einsteigen des BVB-Profis war. Die Balance hatte sich Aytekin mit einem zu strengen Maßstab erkauft, der die Gefahr einer unnötigen Kartenflut barg.

FC Bayern: Nagelsmann liegt daneben

er Unparteiische rückte dann auch davon ab, ansonsten hätte er Leon Goretzka in der 22. Minute für dessen Foulspiel an Niklas Süle ebenfalls verwarnen müssen. Und schließlich profitierte auch Bellingham von Aytekins nunmehr großzügiger Linie bei den persönlichen Strafen.
Regeltechnisch betrachtet war der Ermessensspielraum für den Referee nach Bellinghams Foul an Davies – bei dem er auf Vorteil erkannte, weil sich den Münchnern eine aussichtsreiche Angriffsmöglichkeit bot – allerdings tatsächlich minimal.

Julian Nagelsmann lag zwar daneben, als er sagte, bei der Regelschulung vor der Saison sei gelehrt worden, dass jeder Fußtreffer im Gesicht eines Gegners zu einer Roten Karte führen werde. Vielmehr wurde den Bundesligisten anhand von zwei Szenen aus UEFA-Wettbewerben der vergangenen Saison der Unterschied verdeutlicht, wann ein solcher Treffer zu einem Feldverweis führt und wann nur zu einer Verwarnung.

Rot gibt es beispielsweise, wenn der Fußtreffer am Kopf frontal mit der offenen Sohle erfolgt, nur zu Gelb führt dagegen ein Einsatz, bei dem der Gegner nicht im Blickfeld war und es zu einem Treffer mit dem Spann kommt.

Spieldienlich, aber regeltechnisch schwer zu rechtfertigen

Doch gemessen an diesen Referenzszenen hatte der Bayern-Coach zumindest dahingehend einen Punkt, dass eine persönliche Strafe angebracht gewesen wäre.

Zugleich gab es selbst im Lager der Bayern eine Stimme, die Aytekins Entschluss, Jude Bellinghams Einsatz nicht vorzeitig zu beenden, nachvollziehen konnte: "Wenn ich ehrlich bin, bin ich ein bisschen auch beim Schiedsrichter und habe Verständnis, dass er das Stadion nicht endgültig zum Kochen bringen wollte", sagte der ehemalige Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge. Möglich auch, dass Aytekin die Dortmunder Reaktionen nach den Spielen gegen die Bayern in den vergangenen Jahren ein wenig im Hinterkopf hatte. Bei Gelb-Rot für Bellingham hätte der BVB im Falle einer Niederlage gewiss die erste Verwarnung moniert und eine erneute wesentliche Benachteiligung durch den Schiedsrichter beklagt.

Diese erste – vor allem schiedsrichtertaktisch motivierte, aber letztlich überzogene – Gelbe Karte für Bellingham schuf das Problem, über das nach dem Schlusspfiff gesprochen wurde. Aytekin versuchte, es später durch den Verzicht auf Gelb-Rot zu beheben – was zwar tatsächlich in der Addition beider Szenen ausgewogen und spieldienlich war, sich aber regeltechnisch nur schwer rechtfertigen ließ. In der zweiten Hälfte passte das Strafmaß dann besser zum Spiel, es war schlüssiger, auch bei Gelb-Rot gegen Kingsley Coman in der 90. Minute nach dem zweiten glasklaren taktischen Foul – hier blieb dem Schiedsrichter definitiv keine Wahl.

Collinas Erben: Sané-Tritt gegen Adeyemi kein Rot

Leroy Sanés leichten Tritt im Fallen gegen die Brust von Karim Adeyemi, der den Münchner zuvor gefoult hatte, nicht als Tätlichkeit zu bewerten und wie Adeyemis Vergehen nur mit einer Verwarnung zu ahnden, war ebenfalls angemessen.

Nach dem Seitenwechsel konnte Deniz Aytekin auch seine größte Stärke, die Spielleitung mittels Persönlichkeit und Kommunikation, besser ausspielen. Und wenn Modeste nicht noch den späten Ausgleichstreffer erzielt hätte, wäre der Unparteiische wohl kein Thema gewesen.

Umso höher ist es ihm anzurechnen, dass er sich – einmal mehr – den medialen Nachfragen stellte und offen erläuterte, warum er in der strittigsten Situation so entschied, wie er es tat. So gewährte er auch Einblicke in die spieltaktischen Erwägungen eines Schiedsrichters, die noch weit mehr Verbreitung finden müssten. Schon weil sich die Spielleitung der Unparteiischen so besser verstehen lässt.

Alex Feuerherdt