Die teuflische Schwäche des Offensiv-Monsters Belgien

Belgien belohnt sich endlich und feiert gegen Rumänien (2:0) den ersten EM-Sieg bei dieser Euro [die Highlights des Spiels öffnen sich oben im Video]. Das Potential der Mannschaft des deutschen Trainers Domenico Tedesco scheint riesig. Kevin De Bruyne zaubert wie in jungen Tagen. Wäre da nicht eine teuflische Schwäche.
Chancenverwertung, war da was? Binnen 75 Sekunden hatten die Roten Teufel ihr Trauma aus dem ersten Gruppenspiel abgeschüttelt und das geschafft, was ihnen gegen die Slowakei noch über 90 Minuten verwehrt geblieben war: ein Tor.
Nach einem Ballgewinn landete die Kugel bei dem gescholtenen Auftaktspiel-Pechvogel Romelu Lukaku (zwei Abseitstore), der klugerweise zu Youri Tielemans zurücklegte. Der neu in die Startelf gerückte Offensivspieler nahm direkt ab und rumste den Ball mit 114 km/h ins Netz. Es folgte ein wilder Jubel vor der eigenen Fankurve. Die Anhänger aus dem Nachbarland waren vorbereitet, zündeten roten Rauch und verlegten das berühmte Kölner Veedel "Belgisches Viertel" kurzerhand ins Müngersdorfer Stadion. Belgiens Nationaltrainer Domenico Tedesco verschwendete keine Zeit mit ausgiebigem Jubel, sondern versank im Zwiegespräch mit einem Assistenten und wies anschließend seine Mannschaft gestenreich an. Weiter, immer weiter.
Die Rode Duivels starteten mit Wut im Bauch, ließen das die Rumänen spüren. Auch die erneut eindrucksvolle Atmosphäre schüchterte das Team nicht ein. Das Stadion in Köln war mehrheitlich in gelber, also rumänischer Hand.
Casteels schlüpft in Heldenrolle
Die Männer in Gelb antworteten sofort. Der im Winter vom FC Bayern umworbene Innenverteidiger Radu Dragusin nickte eine Flanke beinahe zum Ausgleich ein (5.) – Belgien-Torwart Koen Casteels parierte. Der 31-Jährige würde später in eine Heldenrolle schlüpfen.
Dann rissen die Belgier die Partie an sich. Die technisch versierte Angriffsreihe zeigte einen stürmischen Offensivfußball, der eben zu Belgien gehört wie das Atomium, das ein Fan in Miniatur auf seinem Kopf in die Südkurve gebracht hatte.
Was uns wieder zur Chancenverwertung bringt.
Denn trotz der drückenden Überlegenheit legten die Belgier vorerst nicht nach. Als sich Lukaku im Sechzehner frei drehte (14.), verhinderte ein rumänisches Bein Schlimmeres. Da riss Tedesco sich angesichts der vergebenen Chance sein Jackett über die Schultern. Es hielt dem Stresstest stand.
Vier Minuten später drang der Ex-Herthaner Dodo Lukebakio in den Sechzehner ein und prüfte Keeper Florin Nita mit einem saftigen Schlenzer. Tedesco gefiel die Wucht, er applaudierte seiner Mannschaft zu. Nicht noch einmal wollte er erleben, wie seine Elf trotz Dominanz abgekocht wird.
Zum Auftakt gegen die Slowakei hatten alle mit einer klaren Nummer gerechnet, dann geschah die erste große EM-Überraschung. Belgien ließ die Chancen reihenweise liegen, die Slowaken schlugen eiskalt zu. Es war im 15. Spiel unter Tedesco die erste Niederlage. Ausgerechnet im ersten Spiel der EM. Das Ticket für die Euro hatten die Roten Teufel zuvor sehr souverän und ohne Niederlage gelöst.
Belgien: Der Ex-Geheimfavorit
Den ersten "Titel“ war Belgien schon vor dieser EM in Deutschland los. Der ewige "Geheimfavorit" ist das Team nicht mehr. Dieses Label haftet nun sehr ungeheim an der Alpenrepublik Österreich und ihrem Trainer Ralf Rangnick. Belgien ist jetzt "nur" noch ein normaler Favorit. Ein offensiv gesegnetes Team mit ganz okayen Aussichten, weit im Turnier zu kommen. Vielleicht hilft es dem Team, nicht mehr derart gehypt zu sein wie in vergangenen Turnieren.
In den Zeiten als fast schon Running-Gag-esker Geheimfavorit sprang immerhin ein dritter Rang bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland heraus. Ansonsten setzte es mehrere Viertelfinal-Einzüge und bittere Niederlagen.
Aber: Die Red Devils stehen immer noch Platz drei der FIFA-Weltrangliste, sind gespickt mit Spielern, die zu Europas Elite gehören, wie Kevin De Bruyne oder Lukaku.
Als Reaktion auf die Niederlage gegen Slowakei baute Tedesco sein Team auf vier Positionen um. Jan Vertonghen und Arthur Theate kamen erstmals bei dieser EM zum Einsatz. Auch Tielemans und Lukebakio durften ran. Belohnt wurde Tedesco für seinen Schachzug dann schon in der 2. Spielminute, als Tielemans die belgische Party eröffnete.
Die Rumänen hatten nach ihrem sensationellen 3:0 gegen die Ukraine eigentlich Lust auf mehr und große Euphorie in der Heimat ausgemacht. Zu sehen war davon in der ersten Halbzeit eher weniger. Ein paar Halbchancen, nichts Zwingendes. Der belgische Beelzebub saß fest im Fahrersitz. Vor allem über die Flügel Doku und Lukebakio rollten die feurigen Angriffe an. Die Mission Wiedergutmachung war klar auf Kurs.
Allerdings hatten sich die Rumänen noch nicht aufgegeben, setzten vor allem in der zweiten Halbzeit dagegen. Blauschopf Andrei Ratiu versprang der Ball in aussichtsreicher Position kurz vor dem Strafraum. Belgien punchte zurück mit Lukaku, mit De Bruyne und dem flinken Jeremy Doku.
Lukaku bleibt der Pechvogel
Dann belohnte sich der hochtourige Lukaku endlich, die vermeintliche Erlösung. Doch nach einem VAR-Check wurde nun schon sein drittes Tor aberkannt. Das Spiel wurde wilder. Der angefressene Lukaku wühlte sich erneut durch, Keeper Nita entschärfte.
Dann der entscheidende Auftritt von Casteels. Erst rettete er vor dem heranstürmenden Dennis Man im Eins-gegen-eins (68.), dann setzte er De Bruyne in Szene (80.). Ein langer Abschlag des Noch-Wolfsburgers fand den Weg zum Rotschopf wie 2010 einst Manuel Neuer WM-Rekordtorschütze Miroslav Klose gegen England. De Bruyne hielt sich mit dem linken Arm den Gegner vom Leibe und rutschte den Ball an Nita vorbei ins rechte Eck. Tedesco jubelte mit der Ersatzbank, ehe er mit einer klaren VAR-Geste mit den Händen zur kurzen Contenance ermahnte. Diesmal aber crashte der VAR die Tor-Parade nicht. So durften die Fans der Roten Teufel ihren Torschützen von ManCity ausgiebig feiern.
De Byune habe ihn heute beeindruckt, sagte Abwehrmann Jan Vertonghen später in der Mixed Zone über seinen Kapitän, der wegen einer langwierigen Oberschenkelverletzung in der zurückliegenden Saison lange ausgefallen war. "Das Wichtigste ist, wie er spielt und die Energie, die er uns gibt. Du bekommst Energie von ihm. Du guckst ihn an: Wie er presst, wie er spielt, wie er passt, da gibt er dem Team viel Energie. Darum ist er so wichtig für uns."
Gruppe E ist extrem spannend
Die Partie blieb temporeich bis zum Schluss, nur einer belohnte sich weiter nicht trotz ausgiebiger Ackerei nicht. Lukaku feuerte fünf Torschüsse ab – ohne regelkonformen Treffer. Er bleibt vorerst weiter der Pechvogel der EM. Von Tedesco bekam er als einer der Ersten eine dicke Umarmung.
Vielleicht gibt’s die Erlösung gegen die Ukraine. In der Gruppe E droht ein wahres Herzschlagfinale.
Nach zwei Spieltagen bietet die Gruppe eine spannende Ausgangslage. Alle Teams haben nun drei Punkte. Wer weiterkommt, wer rausfliegt - all das entscheidet sich erst im Gruppen-Finale am 26. Juni. Noch alle Mannschaften können noch Gruppensieger werden – oder eben Letzter.
Eine entscheidende Rolle wird weiter die Chancenverwertung der Belgien spielen. Das sahen auch Casteels und Tedesco so. "Wir hätten höher gewinnen müssen. Wenn man etwas Kleines verbessern kann, dann unsere Effizienz. Wir haben gut gespielt und hatten viele Chancen", sagte der Keeper.
Noch deutlicher wurde sein Coach.
"Wir haben die ein oder andre Chance versiebt. Das tut mir nicht ganz so gut. Wenn wir die Spiele früher entscheiden, können, wäre es mir lieber", erklärte er auf der Pressekonferenz. Zwei Tore in diesen beiden Spielen – "das ist eigentlich zu wenig. Wir müssen das Spiel viel früher zumachen."
Es ist ein teuflisches Spiel mit dem Feuer.
Emmanuel Schneider, Köln