20.08.2024 10:38 Uhr

Der VfB Stuttgart ist ein Transfergewinner

Deniz Undav und der VfB werden auch in der neuen Saison wieder Freude machen
Deniz Undav und der VfB werden auch in der neuen Saison wieder Freude machen

In seiner sport.de-Kolumne beleuchtet Florian Regelmann Themen, die ihn umtreiben, begeistern oder aufregen. Diesmal geht es vor dem Start der neuen Bundesliga-Saison um den VfB Stuttgart. 

Wenn ich an die surreale Vizemeister-Saison des VfB denke, stört mich in der Bewertung mancher ein Wort: Überperformance.

Es gibt da draußen wahrscheinlich recht viele, die während der abgelaufenen Spielzeit und auch jetzt vor der neuen glauben: Der VfB hat eine Saison extrem über seine Verhältnisse gespielt, er wird einen deutlichen Schritt zurück machen, erst recht nach den Abgängen der Leistungsträger Serhou Guirassy, Waldemar Anton und Hiroki Ito.

Meiner Meinung nach könnte es keine Einschätzung geben, mit der man mehr daneben liegt. Der Witz, das Unfassbare an der VfB-Saison, waren gar nicht mal so sehr die Ergebnisse Woche für Woche. Das eigentlich Wahnsinnige war, dass der VfB eben nicht überperformt hat. Er hat eben nicht über seine Verhältnisse gespielt. Er hat genau das gespielt, was er kann.

Als Leverkusen-Coach Xabi Alonso in der Rückrunde erklärte, der VfB sei aktuell eine der besten Mannschaften Europas, war das keine leicht dahin gesagte Nettigkeit, das war ernst gemeint. 

Für mich war das auch der große Aha-Moment in der vergangenen Saison. Ich weiß nicht genau, wann er kam. Es war sicher ein Prozess, der schrittweise vonstattenging, aber der Sieg gegen Borussia Dortmund am 11. Spieltag war dabei mit Sicherheit einschneidend. Wir erinnern uns: Das 2:1 gegen den BVB war eigentlich ein gefühltes 8:0. Torschussverhältnis: 22:5. Expected Goals des VfB: 4.39.

VfB: Besondere Chemie, kollektive Gier

Es geht nicht nur darum, dass der VfB so viele Spiele gewonnen hat. Es geht nicht nur darum, dass am Ende Platz zwei stand. Es geht auch und vor allem darum, dass der VfB Woche für Woche nahezu alle Mannschaften der Bundesliga dominiert hat, selbst Leverkusen in Phasen. Das war das Erschütternde.

Und dass es sich Woche für Woche normaler und selbstverständlicher angefühlt hat. Weil sie in dem Sinne nichts Besonderes gemacht haben, sie haben "einfach nur" das gespielt, was sie draufhaben. Sehr mutig mit Ball, sehr intensiv gegen den Ball. Und extrem widerstandsfähig dazu.

Das hat nicht immer zu Siegen geführt, aber du wusstest an jedem Spieltag, was du vom VfB bekommst, weil das Grundniveau so hoch war. Ich kann mich nicht erinnern, dass das in der Stuttgarter Geschichte überhaupt jemals in der Art und Weise der Fall war, selbst zu den glorreichsten Zeiten nicht.  

Und mein Gehirn war ja auch so trainiert, dass der VfB in der 2. Liga bei Wehen Wiesbaden verliert. Es ist gar nicht so leicht, sein Gehirn dann dazu zu bringen, dass es versteht, dass wir jetzt in einer neuen Welt leben. 

Auf der anderen Seite hatte ich diese skurrilen Momente, dass ich irgendwann die Leistungen als normal hingenommen habe. Wie kann man "nach all der Sch…" es irgendwann als "normal" empfinden, wenn der VfB Woche für Woche die Bundesliga herspielt? Aber das Team hat es irgendwann auch selbst als "normal" empfunden, weil es gemerkt hat, wie gut es ist.        

Ein ganz außergewöhnlicher Trainer. Eine ganz außergewöhnliche Ansammlung von Persönlichkeiten, die ihre Rollen ganz genau kennen und akzeptieren. Eine besondere Chemie. Eine kollektive Gier. Ein kollektiver Fokus, den du bei jedem Spiel schon nach wenigen Momenten erkennen kannst. Das waren und sind die Zutaten zum Erfolg.

Jetzt kann man sagen: Dem VfB wurden drei wahnsinnig wichtige Spieler herausgerissen und weggekauft, das ändert alles. Aber: Auch wenn sich das im ersten Moment vielleicht komisch anhören mag, ist der VfB-Kader trotzdem besser geworden. Der VfB ist ein Transfergewinnner, kein Transferverlierer. 

In der Breite sollte die Verbesserung auch komplett unstrittig sein. In der vergangenen Saison war der VfB so dünn besetzt, dass Sebastian Hoeneß im besten Fall die Hälfte seiner Auswechselbank als ernsthafte Optionen angesehen hat. Der Rest war halt im Kader. In der neuen Saison wird es ein Hauen und Stechen geben, um überhaupt in den Kader zu kommen. 

VfB Stuttgart: Wie sieht eine potenzielle Startelf aus?

Machen wir doch einfach mal ein Experiment und gehen den Kader durch. Wie sieht die beste Elf des VfB aus? Nicht zum Start, weil einige noch Eingewöhnungszeit brauchen, im Aufbau oder noch nicht so lange im Training sind, aber perspektivisch.

Erste Elf:

Nübel - Vagnoman, Rouault, Chabot, Mittelstädt - Karazor, Stiller - Millot, Undav, Führich - Demirovic

Eine mögliche zweite Elf:

Bredlow - Stenzel, Stergiou, Zagadou, Krätzig - Keitel, Rieder - Silas, Leweling, Diehl - Woltemade   

Anmerkungen:

  • Der VfB ist unter Hoeneß sehr flexibel, was die taktische Grundordnung angeht, deshalb ist das nur eine mögliche Variante, um aufzuzeigen, wie es grundsätzlich gerade aussieht. Je nachdem, wie man es hier anpasst, ergeben sich natürlich andere Konstellationen.
  • Hier stehen zwei mögliche Mannschaften und ich habe Namen wie Woo-yeong Jeong (wird es extrem schwer haben), Youngster Luca Raimund (machte bis zu seiner Verletzung in der Vorbereitung einen exzellenten Eindruck und war so nah dran wie nie), Nikolas Nartey oder Ramon Hendriks (niederländischer Neuzugang in der Abwehr mit viel Potenzial) noch nicht mal erwähnt bzw. unterbekommen. Geschweige denn weitere Talente wie Moussa Cissé, Anrie Chase oder Samuele di Benedetto.    
  • Auch El Bilal Touré fehlt hier noch. Der 22-jährige Stürmer ist im Anflug und soll auf Leihbasis von Europa-League-Champion Atalanta Bergamo nach Stuttgart kommen und ist schon wieder der nächste spannende Neuzugang. Wenn ich El Bilal Touré als Backup für Demirovic einplane, muss ich Neuzugang Nick Woltemade in meinem Experiment in die dritte Elf verbannen, ernsthaft? Wie gesagt, nur eine Spielerei, aber krass ist es trotzdem.
  • Und dann soll ja noch ein rechter Innenverteidiger kommen. Ein Qualitätsspieler, der sofort starten kann. Loic Badé vom FC Sevilla ist nach "kicker"-Infos wohl doch zu teuer, aber vielleicht wäre das jetzt auch des Guten zu viel gewesen, wenn du in Anton deinen Kapitän und Abwehrchef verlierst und ihn dann einfach mal so mit einem potenziellen Superstar ersetzt, der die Verteidiger-Zukunft der französischen Nationalmannschaft ist … So oder so, hier muss noch eine echte Verstärkung her, aber zweifelt aktuell jemand daran, dass der VfB hier noch einen guten Mann finden wird? An dieser Stelle will ich aber auch eine Lanze für Anthony Rouault brechen. Wie gesagt, der VfB muss auf der Position etwas tun, keine Frage, aber mir wird hier und da zu schlecht über Rouault gesprochen. Rouault ist immer noch erst 23 (!) und absolut auf dem Weg zu einem richtig guten Innenverteidiger in der Bundesliga.     
  • Die Maschine namens Chabot als neuer Abwehrchef, Demirovic als Guirassy-Ersatz - der VfB hätte auf beiden Positionen nicht besser reagieren und zuschlagen können, beide werden zünden. Demirovic ist nicht so elegant wie Guirassy und Chabot im Vergleich zu Anton spielerisch selbstredend schwächer, dafür bringen beide eine gewisse Toughness in die Truppe. Beide könnten auch beim Eishockey als Enforcer oder Goon durchgehen, die bei jeder Massenschlägerei vorne dabei wären - sie tun dem VfB auch deshalb richtig gut.   
  • Ich schäme mich, Fabian Rieder in die zweite Elf gepackt zu haben. Ich schäme mich echt. Rieder ist der Name, über den für mich viel viel zu wenig gesprochen wird. Der Schweizer hat das Potenzial zum absoluten Unterschiedsspieler. Er ist so so gut. Rieder ist laufstark, spielintelligent und sein linker Fuß ist ein Traum (Standards!!!). Nach einem schwierigen Jahr in Rennes und einer starken EM ist Rieder mit erst 22 Jahren noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung. Und jetzt kriegt ihn Hoeneß in seine Hände … watch out! Deshalb ganz klar: Rieder wird meiner Meinung nach perspektivisch starten. Und nicht nur dann, wenn andere eine Pause brauchen. Ich bin so gespannt zu sehen, was Hoeneß mit ihm im Kopf hat. Vielleicht ja auch mal eine flexible und unfassbar kreative Dreierreihe aus Rieder, Undav und Millot hinter Demirovic?! Oder, wenn rotiert wird, Rieder auch mal an der Seite von Stiller oder Karazor, auch das würde schmecken.
  • Silas und Justin Diehl auf den offensiven Außen als Backups? Geht schlechter! Silas ist der absolute Gewinner der Vorbereitung. Gefühlt war er ja fast schon weg. Man war geneigt zu sagen, wir lieben dich, aber leider reicht es nicht (mehr), und jetzt sehen wir vielleicht den beste Silas ever … Und bei Diehl sieht man auch schon, dass er unter Hoeneß einen gewaltigen Sprung machen und dem VfB mit seinem Tempo nochmal eine richtig starke Option geben wird. Klar, es wird Verletzungen geben, der VfB braucht mit der Champions-League-Belastung die Breite, aber - holy shit - vor allem im Offensiv-Bereich ist der Konkurrenzkampf schon fies.
  • Ach ja, Angelo Stiller ist ein Top-10-Spieler der Bundesliga.

VfB: Viel Geld ausgegeben, aber keine CL-Falle!

Viel wurde in den vergangenen Wochen über die Personalie Deniz Undav und das finanzielle Paket gesprochen, das der VfB für ihn schnüren musste. Ganz ehrlich: Für den VfB war das sehr nahe an der Kategorie alternativlos, auf jeden Fall emotional alternativlos. Der VfB hätte es sich einfach nicht erlauben können, Undav zu verlieren. Sportlich nicht und schon gar nicht als Persönlichkeit und Identifikationsfigur. Undavs Wert ist so immens hoch.

Dazu kommt, dass man festhalten muss: Wenn man "50-Millionen-Paket" hört, zuckt man zwar zusammen, und es ist unbestritten enorm viel Geld, zumal ja auch Demirovic sehr teuer war, aber der VfB macht hier trotzdem nichts Unvernünftiges. Er setzt vielmehr ein wichtiges Zeichen.   

Ja, er geht in gewisser Weise ins Risiko, aber er weiß dennoch genau, was er tut. Der VfB hat durch die Abgänge auch viel Geld eingenommen, er hat die Porsche-Millionen, er hat ein fertiges Top-Stadion, das Mehr-Einnahmen garantiert, er hat die CL-Einnahmen, er ist in der TV-Tabelle geklettert - der VfB tappt hier in keine CL-Falle, das stimmt einfach nicht. 

Ehrlicherweise müssen wir einfach auch anerkennen, dass so viel Kohle in diesem perversen Fußballgeschäft im Umlauf ist, dass sich die Dimensionen weiter nach oben verschoben haben. Der VfB hat nicht 1993 50 Millionen für zwei Stürmer ausgegeben, er hat es 2024 gemacht. Und da ist das im Gesamtzusammenhang der Umstände und Möglichkeiten einfach gar nicht mal mehr so verrückt. Es fühlt sich für uns nur total verrückt an. 

Man muss auch sagen, dass der VfB genau zur richtigen Zeit eine so explosionsartige Entwicklung genommen hat. Nach den beiden Abstiegen schien es auf Ewigkeiten unmöglich, in der Bundesliga sich wieder im ersten Drittel etablieren zu können. Wenn man sich die Lage jetzt aber genau anschaut, war es plötzlich lange nicht mehr so "leicht", sich wieder da oben zu etablieren.

Zu erwarten, dass der VfB wieder Zweiter wird, oder sogar die Meisterschaft angreifen kann, ist natürlich Quatsch. Aber auf der anderen Seite ist es mindestens genauso großer Quatsch, wenn man glaubt, dass für den VfB eine reelle Gefahr besteht, wieder nach unten abzustürzen.

Bundesliga: Der VfB kann gar nicht abstürzen

Wenn wir sagen, Leverkusen, Bayern, Dortmund und Leipzig sind die klaren Top 4 und vor dem VfB, was ich zumindest bei einem dieser vier nicht mal so klar sehen würde (Hallo Dortmund), aber wenn wir es einfach mal so sehen: Wer davon abgesehen sollte denn zwingend vor dem VfB landen? Das Dino-Toppmöller-Frankfurt, das sich in der vergangenen Saison trotz größter Anstrengung nicht gegen Platz sechs wehren konnte? Freiburg ohne Streich? 

Wolfsburg vielleicht, weil die halt nach wie vor Geld haben? Gladbach??? Wirklich? Hoffenheim? Ja, wenn sie nicht Sebastian Hoeneß entlassen und damit den größten Fehler überhaupt gemacht hätten. Was im Übrigen in Hoffenheim heute im Rückblick wahrscheinlich bis auf eine Person alle auch so sehen.       

Aber zurück zum VfB: Selbst wenn größere Probleme auftauchen und vieles schief läuft, ist es für den VfB mit dieser Mannschaft und diesem Trainer nahezu unmöglich, außerhalb der Top 8 zu landen. Dafür ist die Bundesliga insgesamt qualitativ einfach auch nicht gut genug. Du musst als VfB das Ziel haben, auf jeden Fall wieder unter die Top 6 zu kommen.

Ja, ich schreibe gleich nochmal 100 Mal Demut an die Tafel, aber es ist doch wirklich so. Und die getätigten Transfers machen auch klar, dass der VfB das selbst so sieht und sich nicht mehr hinter einer "Wir wollen nur eine ruhige Saison spielen"-Einstellung verstecken wird. 

Zugegeben, es gibt große Herausforderungen und offene Fragen, Stichwort Dreifachbelastung. Wie findet die Truppe drei Tage nach einem absoluten Champions-League-Highlight wieder zurück in den vergleichsweise tristen Bundesliga-Alltag? Das ist ein Fragezeichen, das ich sehe und auf die Antwort bin ich sehr gespannt. Aber ich habe da bei diesem Trainer tatsächlich keine Bedenken.

Der Star ist Sebastian Hoeneß

Der VfB durfte Deniz Undav auf gar keinen Fall verlieren. Aber im Grunde genommen können wir auch sagen: Es gibt nur eine Person, die der VfB nicht verlieren durfte: Sebastian Hoeneß. 

Er hat dem VfB die Identität und die Spielidee verpasst, die er jetzt lebt und - ganz wichtig - an die jeder im Team glaubt. Dass Hoeneß in Stuttgart verlängert hat und geblieben ist, obwohl es mit Sicherheit für ihn auch spannende Alternativen gegeben hätte, spricht unendlich für ihn.

Aber machen wir uns nichts vor: Es ist sehr gut möglich, dass die neue Saison die letzte Hoeneß-Saison in Stuttgart sein wird. Er ist viel zu gut, als dass er nicht dann den nächsten Schritt machen muss und ihn auch machen wird. 

Die größte Aufgabe für Fabian Wohlgemuth wird es sein, sich jetzt schon Gedanken zu machen, wer der geeignete Nachfolger für Hoeneß sein könnte. Das wird nach vorne gedacht seine Königsaufgabe, wenn der VfB wirklich auf Jahre hinaus eine gute Rolle spielen will.    

Aber noch ist Hoeneß in Stuttgart und mindestens solange das so ist, ist der VfB for real - gewöhnt Euch dran!

sport.de-Kolumnist Florian Regelmann kann auf viele Jahre als leitender Sportredakteur zurückblicken, seit März ist er als Head of US Sports für HEIM:SPIEL tätig.