26.09.2022 18:53 Uhr

Wie der Fall Müller vor der WM zur Streitfrage wird

Thomas Müller hat es derzeit beim FC Bayern und im DFB-Team schwer
Thomas Müller hat es derzeit beim FC Bayern und im DFB-Team schwer

Eigentlich hätte Thomas Müller in diesen Tagen im Kreise der deutschen Fußball-Nationalmannschaft Kraft tanken sollen, um gestärkt zum FC Bayern zurückzukehren, wo es derzeit sportlich nicht nach Maß läuft. Doch nach dem 0:1 gegen Ungarn hängt auch beim DFB-Team der Haussegen schief. Keine leichte Phase für den Münchner Profi, der sich seit Wochen schwertut und um dessen Bedeutung für die Nationalelf bereits ein Streit entbrannt ist.

Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Abend im vorletzten Spiel vor der WM in Katar im Wembley-Stadion gegen England antritt (20:45 Uhr, RTL und im sport.de-Live-Ticker), dann wird auch Thomas Müller wieder mit von der Partie sein.

Seit Müllers Rückkehr ins DFB-Team im Sommer 2021 - nach mehr als zweieinhalbjähriger Auszeit - pflegt Bundestrainer Hansi Flick das alte Motto von Ex-Bayern-Coach Louis van Gaal: "Thomas Müller spielt immer." Unter dem Nachfolger von Jogi Löw, der Müller nach der WM 2018 noch aussortiert hatte, avancierte der Bayern-Angreifer zu einem der wichtigsten Pfeiler in Flicks Offensivplanungen.

Mit Recht. 29 Scorerpunkte (21 Vorlagen, acht Tore) in der vergangenen Bundesliga-Spielzeit ließen den neuen Bundestrainer gar nicht an Müller vorbeikommen. Warum auch? Flick weiß um Müllers Qualitäten, durfte ihn hautnah in den beiden Vorsaisons in seiner Rolle als Trainer des FC Bayern erleben, in denen der Offensivmann ebenfalls jeweils 21 Vorlagen sowie acht (19/20) und elf (20/21) Tore sammelte. 

Doch derzeit herrscht Flaute beim 33-Jährigen. Und zwar bereits seit wettbewerbsübergreifend sieben Spielen. Müllers letzte notierte Offensivaktion datiert von Ende August, als er im DFB-Pokal gegen Drittligist Viktoria Köln eine Vorlage zum 5:0-Erfolg beisteuerte. Seitdem kam sowohl in der Liga als auch in der Champions League kein Scorerpunkt mehr hinzu. 

FC Bayern: Müllers Schwächephase kommt zur Unzeit

Das bedeutet jedoch nicht, dass Müller zu wenig tut, um erfolgreich sein. Im Gegenteil. Der 33-Jährige ist möglicherweise sogar zu bemüht und agiert deshalb oft glücklos in der nach dem Abgang von Robert Lewandowski völlig neu formierten Bayern-Offensive.

Beispielhaft zeigt das eine Szene im Spiel gegen den FC Barcelona kurz vor der Pause. Als in der 40. Minute eine Flanke von Jamal Musiala von rechts in den Strafraum fliegt, sprintet "Raumdeuter" Müller genau an die richtige Stelle. Doch was Müller nicht sieht: von hinten hat sich Neuzugang Sadio Mané in den gleichen Raum bewegt. Am Ende verpassen beide das mögliche Tor, weil sie sich gegenseitig behindern. Unglücklich!

Dabei kommt es für Müller zur Unzeit, dass seine Nebenleute ebenfalls kleinere und größere Krisen durchmachen. Sichtbar wird das, wenn man sich die Chancen des FC Bayern in den letzten Spielen gegen den FC Augsburg (0:1) oder den VfB Stuttgart (2:2) anschaut. An zahlreichen Offensivaktionen war Müller hier als Initiator oder sogar als direkter Vorlagengeber beteiligt, doch egal ob Mané, Leroy Sané oder Serge Gnabry, der derzeit am härtesten zu knabbern hat, keiner verwertete die Zuspiele des 33-Jährigen, mögliche Punkte wurden liegengelassen.

Basler mit Abgesang auf Müller im DFB-Team

Ungeachtet dessen rollt längst die Kritikwelle an Müller. Im "Doppelpass" bei "Sport1" ließ Ex-Nationalspieler Mario Basler einen Abgesang auf Müller los, empfahl "ein Zeichen zu setzen" und den Bayern-Angreifer noch vor der WM aus dem Team zu nehmen. Müllers Form sei "bei großen Spielen nicht mehr die wie früher", sagte Basler. Dabei hatte Müller gerade erst beim vielbeachteten 5:2-Erfolg über Europameister Italien Ende Juni ein Tor beigetragen und zwei Treffer eingeleitete (sport.de-Note 1,5). 

Müller seinerseits ahnte schon direkt nach der Niederlage gegen Ungarn am Freitag, dass die Diskussionen in den folgenden Tagen ungemütlich werden könnten - trotz zuvor beachtlichen 13 Spielen ohne Niederlage unter Flick (davon neun Siege). "Wir wissen natürlich um Situation jetzt kurz vor der Weltmeisterschaft. Es wird geschrieben, da werden wir sicherlich nicht gut wegkommen", sagte der 33-Jährige im "ZDF" und fügte an: "Aber da müssen wir drüberstehen und das vom Trainer vorgegebene Konzept weiter verfolgen."

In Stefan Effenberg hielt immerhin ein anderer, der ebenfalls für markige Worte bekannt ist, dagegen. Müller sei ein Schlüsselspieler für Flick und "unantastbar", erwiderte der 54-Jährige Baslers Worte im "Doppelpass". Für Effenberg steht außer Frage, dass der Bundestrainer trotz der kleinen Schwächephase voll auf Müller setzen muss und begründete dies auch: "Er weiß, wie solche Turniere gespielt werden." Für den TV-Experten und früheren DFB-Kicker ist klar: "Wir haben in der Nationalmannschaft und bei Bayern andere Baustellen als Thomas Müller."

Das dürften auch FCB-Coach Julian Nagelsmann und vor allem Flick so sehen. "Es ist so, dass solche Spiele manchmal vorkommen", sagte der Bundestrainer nach dem Spiel. Die Mannschaft sei nun "wachgemacht worden". Ob das auch für Müller gilt, dem die "Deutsche Welle" attestierte, "müde" zu wirken, wird das Spiel gegen England am Abend (20:45 Uhr, RTL und im sport.de-Live-Ticker) zeigen.

Schon gegen Ungarn beförderte der sichtlich bemühte Bayern-Offensivmann den Ball sehenswert ins Tor, wurde aber wegen einer Abseitsstellung von Jonas Hofmann zurückgepfiffen. Im Spiel gegen die Three Lions könnte "Phänomen" Müller, wie Flick den Weltmeister von 2014 liebevoll nennt, mit einem Tor dafür sorgen, dass Basler und Co. schnell wieder verstummen und gleichzeitig sein eigenes Selbstvertrauen steigern, das auch beim FC Bayern in den kommenden Wochen gefragt sein wird.

Chris Rohdenburg