Wunder-Comeback: VfB-Trio schreibt unglaubliche Pokal-Geschichten

Der VfB Stuttgart spielt sich im Finale von Berlin schon in der ersten Halbzeit in einen Titel-Rausch. Während der Partie herrscht Ausnahmezustand bei den Fans, nach dem wilden 4:2 und dem Sieg im Pokalfinale gegen Arminia Bielefeld brechen alle Dämme. Drei Spieler schreiben ihre eigenen unglaublichen Geschichten. Allen voran Wunder-Comebacker Angelo Stiller.
Nick Woltemade war der Erste. Nicht nur im Torreigen des VfB Stuttgart, sondern später auch beim Losstürmen nach Abpfiff in Richtung der VfB-Fans in der Ostkurve. Mit wedelnden Armen feuerte er die euphorisierten Fans an.
Eben jenen Abpfiff hatte Sebastian Hoeneß in den letzten Minuten körperlich herbeigefleht. Der VfB-Trainer schaute wie wild auf seine Uhr, immer wieder. Kickte eine Wasserflasche um. Drittligist Arminia Bielefeld hatte nochmal zum wilden Schlussspurt angesetzt und zwei späte Tore erzielt. Dann die Erlösung. Als der Pfiff von Schiedsrichter Christian Dingert doch ertönte, fiel eine unglaubliche Last bei den Schwaben ab. Das war bis auf die Zuschauerränge zu spüren.
Kapitän Atakan Karazor sackte auf den Boden, Berlin-Rückkehrer Maximilian Mittelstädt zeigte mit dem Arm nach oben und Hoeneß jubelte in Richtung Haupttribüne zu seinen Eltern und der Familie, wie er später auf der Pressekonferenz erklärte. Die Fans hatten ohnehin schon 90 Minuten dauergefeiert. Nun eskalierte es völlig.
"Es war eine Riesenanspannung heute, nach so langer Zeit wieder im Finale zu stehen und die Chance zu haben, in die Geschichtsbücher des VfB Stuttgart einzugehen", sagte Klub-Boss Alexander Wehrle nach der Partie erleichtert. "Das haben die Jungs heute großartig gemacht. Super Stimmung, ganz Stuttgart war gefühlt heute Nachmittag in Berlin. Ich freue mich einfach für die Mannschaft, für die Fans, für ganz Stuttgart", sagte Wehrle weiter.
Hoeneß erfüllt sich auch privaten Traum
Zu feiern gibt es genug: Vierter Pokal-Titel, mittelmäßige Saison gerettet, nächstes Jahr wieder europäisch. Im Spiel um alles behielt der VfB die Nerven. Dann folgte der Startschuss zur schwäbischen Party in Berlin. Nach der Siegerehrung schleppten Deniz Undav und Co. den goldenen Pott vor die Fankurve. "Oh, wie ist das schön", sang der schwäbische Chor in die Berliner Nacht, forderte anschließend den Erfolgstrainer, der noch Interviewpflichten nachging, sich dann vor den Anhängern gebührend feiern ließ.
Immer wieder hatte Hoeneß vom Pokalfinale geschwärmt. In jungen Jahren verbrachte er viele Jahre in Berlin, besuchte reihenweise Endspiele. Für ihn erfüllte sich ein persönlicher Traum. Beim VfB schloss sich nicht nur für Hoeneß an diesem Abend der Kreis.
Auf "Äffle und Pferdle" folgte das Trio infernale des VfB Stuttgart. Die schwäbischen TV-Kultfiguren prangten auf einer großen Choreo vor dem Anpfiff in der Ostkurve der VfB-Fans. "Des glaubsch au koim - mit'm Pokal wiedr hoim", stand über den Zeichentrickfiguren geschrieben.
Stiller kann plötzlich wieder laufen
Maßgeblich verantwortlich für den vierten Pokal-Coup war ein Trio des VfB mit besonderen Geschichten. Die wundersamste schrieb Angelo Stiller. Dass er überhaupt auflaufen konnte, war für viele schon ein kleines Wunder. Vor genau zwei Wochen, im letzten Heimspiel gegen Augsburg, hatte sich der Mittelfeldregisseur eine Bänderverletzung zugezogen. Der 24-Jährige musste nach einem brutalen Tritt weinend und gestützt von Mitspielern vom Platz gebracht werden, kam später mit Krücken zurück auf die Auswechselbank. Es sah aus wie das bittere Saisonaus.
Über seinen Zustand hatte der VfB die Tage und Wochen danach ein kleines Staatsgeheimnis im Ländle gemacht. Es waren plötzlich die Bänder der Schwaben-Nation. Erst am Freitag verdichteten sich die Zeichen, dass der Nationalspieler wohl auflaufen könne. Seine Genesung geriert zur Punktlandung. Und was für eine wichtige.
Denn das Spiel des VfB ohne Strippenzieher Stiller ist ein anderes. Hoeneß' Musterschüler ist der Dreh- und Angelpunkt im ballbesitzorientierten System des Trainers. "Er hat sich durchgebissen und keine Zweifel gelassen, dass er spielen möchte", sagte Hoeneß anerkennend. Ihm war klar: "Wenn er spielen kann, kann er ein gutes Spiel machen." Was eine Untertreibung ist.
Offenbar mit Bändern aus Stahl ausgestattet pflügte er durchs Mittelfeld, ohne Rücksicht auf Verluste. Der Wendepunkt der Partie: Kurz nach dem Latten-Treffer von Noah Sarenren Bazee und einem Arminia-Fehler schaltete er blitzschnell und leitete den ersten Treffer von Nick Woltemade (15.) ein, der frei aufs Tor zulief. Auch beim zweiten Treffer führte sein Befreiungsschlag zur einem Bielefelder Fehler und zum ersten Millot-Treffer (22.), beim dritten Tor lieferte Stiller nach Ballgewinnen den tiefen Pass auf Teamkollege Undav (28.).
"Unwichtig", wie es dem Fuß geht
Seine ersten Gedanken nach Abpfiff: "Jetzt geht die Party los", sagte Stiller nach Mitternacht in der Mixed Zone mit einer weißen Party-Schwimmbrille auf dem Kopf. Wie es dem Fuß geht? "Unwichtig". Ab der 60. Minute habe er ihn gespürt, verriet er. "Als es körperlich anstrengend wurde." All das sei jetzt "aber egal." "Ich will jetzt einfach feiern", sagte der Nationalspieler und entschwand Richtung Mannschaftsbus.
Binnen 13 Minuten entzauberte der VfB um Stiller den Pokalschreck Arminia Bielefeld. Der Klub sorgte mit der furiosen ersten halben Stunde für ein Novum. Noch nie hatte ein Team so schnell drei Tore in einem Pokalfinale erzielt.
"Es war ein unglaubliches Spiel", befand Hoeneß. "Mit den ersten drei Chancen haben wir drei Tore gemacht." Ausgerechnet der oft so ineffiziente VfB mutierte im Finale zu Effizienz-Monstern. "Ich glaube, es war verdient. Großes Lob an Bielefeld, die nicht aufgeben, immer marschieren", schickte Hoeneß hinterher. Kurz darauf stürmte das Team die Pressekonferenz in den Katakomben des Stadions und schnappte sich den Trainer. Es muss ja weitergefeiert werden.
Millot mit Doppelpack - im letzten VfB-Spiel?
Zu einem Erfolgsgesicht des Spiels wurde auch einer, der in den vergangenen Monaten viel hatte einstecken müssen. Deniz Undav war einer der Abnehmer von Stiller, legte zudem mit gutem Auge das zweite Tor auf. Auch der Stürmer bekam ein dickes Hoeneß-Lob für ein "großes Spiel". Wochenlang hatte er im Frühjahr in der Liga nicht getroffen und große Fragezeichen produziert. Nun freute er sich über einen Treffer und Assists im Spiel der Saison. Auch hier gilt: Timing ist alles.
Das steht auch über der Geschichte von Enzo Millot. Gleich zwei Treffer erzielte der Edeltechniker. Das erste nach Undav-Pass, beim zweiten marschierte er nach einem Oppie-Fehlpass über die rechte Seite und veredelte mit dem linken Fuß ins lange Eck zum 4:0 (66.) Anschließend stürmte er mit allen Mitspielern über die Bande, direkt zu den Fans. Bei Millot gab es kein Halten mehr, der 22-Jährige jubelte emotional, riss sich das Trikot runter. Es war womöglich sein letztes Spiel im VfB-Dress. Der Franzose steht wohl vor einem Wechsel im Sommer, hat im Vertrag eine Ausstiegsklausel. All das erinnerte ein wenig an den bisher letzten VfB-Pokalsieg 1997. Damals schoss Giovane Elber die Schwaben mit zwei Toren zum Sieg, feierte seine Treffer emotional, auch weil er anschließend zu den Bayern wechselte.
Schon kurz vor dem vierten Treffer schallten die ersten Europapokal-Gesänge durchs Olympiastadion. Durch den Pokalsieg zieht der VfB direkt in die Europa League ein, was nicht nur europäische Leckerbissen verspricht, sondern auch den Transfersommer und die -planungen deutlich erleichtert.
Erst einmal stehen ganz andere Probleme auf der Liste. "Es war ein großartiger Abend - und der ist noch lange nicht zu Ende. Heute werden wir auf gar keinen Fall ins Bett gehen. Ausgeschlossen", kündigte Klub-Chef Wehrle sofort nach Spielende an.
Das glaubt ihm jeder. Und dann geht's wie von Äffle und Pferdle prophezeit heim mit dem Pokal.