30.10.2020 15:19 Uhr

S04-Expertin: "Sargnagel für die Fanseele"

Beim FC Schalke 04 gibt es derzeit viel zu besprechen
Beim FC Schalke 04 gibt es derzeit viel zu besprechen

Beim FC Schalke 04 herrscht seit Monaten Ausnahmezustand. Der Revierklub befindet sich mitten in der schwersten sportlichen und wirtschaftlichen Krise der jüngeren Vereinsgeschichte. Die Aussichten sind schlecht, die Corona-Pandemie verstärkt die Probleme noch zusätzlich in hohem Maße.

Vor dem richtungsweisenden Heimspiel gegen den VfB Stuttgart am Freitag (ab 20:30 Uhr im Live-Ticker) hat die bekannte Schalke-Bloggerin und Fan-Expertin Susanne Hein-Reipen sich zu der Lage bei Königsblau geäußert und einen Einblick in die Seele der Anhänger gegeben. 

Frau Hein-Reipen, wie ist Ihre aktuelle Gefühlslage?

Susanne Hein-Reipen: Die Stimmung ist unterirdisch. Es kommt im Moment einfach alles zusammen: es dürfen keine Fans ins Stadion, die extrem schlechte sportliche Performance der Mannschaft, die jetzt schon seit Monaten anhält, dazu die verschiedenen Maßnahmen der Vereinsführung, die beim Großteil der Fans keinen Anklang finden.

Was meinen Sie mit "Maßnahmen"? 

Das aktuellste Beispiel ist das vieldiskutierte TikTok-Video. Es ist entsetzlich und ein weiterer Sargnagel für die Fanseele. Eigentlich sollten die Spieler beim Derby bis an die Zähne bewaffnet auf dem Rasen kämpfen und dann wird das Ganze mit so einem Geheule vertont? Das ist sterbenspeinlich.

Apropos "kämpfen": Haben die Knappen das im Revierderby ausreichend getan?

Ich hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass sie nicht wollen. Sie sind einfach unheimlich verunsichert. Es gibt aber auch keinen, der vorangeht, und sagt: 'Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt und tun ihnen weh'. Ich glaube eigentlich schon, dass der Wille vorhanden ist. Aber irgendwie sind sie seit mittlerweile neun Monaten in einer totalen Negativspirale.

Wie könnte man dieser Spirale entkommen?

Das weiß ich auch noch nicht. Ich sehe auch keinen, der den dringend benötigten Aggro-Leader geben könnte. Ich will nicht sagen, dass Omar Mascarell ein schlechter Kapitän ist. Er war zudem auch lange verletzt. Aber so richtig vorangehen und das Heft in die Hand nehmen, das kann er nicht. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum viele begeistert gewesen wären, wenn die angedachte Rückholaktion von Sead Kolasinac geklappt hätte. Dem würde man diese Führungsrolle zutrauen. Er hat das Standing und ein extrem kämpferisches Auftreten. Selbst wenn es spielerisch nicht hingehauen hat, war das einer, von dem man denkt: der gibt immer alles. Wenn es nicht reicht, hat er wenigstens gefightet. Im Moment könnten wir so einen gut gebrauchen.

Wäre es ohne Corona-Pandemie und mit Fans im Stadion anders gelaufen? 

Ich glaube schon. Die Mannschaft hätte natürlich trotzdem keinen Zauberfußball abgeliefert. Aber die Fans auf Schalke - gerade die Nordkurve mit den Ultras - haben ein gutes Gespür dafür, wann Zuckerbrot und Peitsche angesagt ist. Ein Beispiel: Ende Februar haben wir 0:5 gegen RB Leipzig verloren. Eigentlich ein No-Go. Trotzdem hat die Nordkurve die Mannschaft nach Spielschluss minutenlang abgefeiert. Weil sie gemerkt hat, dass sie bis zum Schluss gekämpft hat und dass Leipzig einfach eiskalt war und jede Chance verwertet hat. Nach dem Motto: Wir stehen auch zu dir, wenn du verlierst. Ich denke nicht, dass sich das Team gegen Bremen (0:1) und Augsburg (0:3) im Frühsommer so übel hätte hängen lassen, wenn Fans dabei gewesen wären, weil es sonst von den Pfiffen aus dem Stadion gepustet worden wäre.

Jetzt müssen sich die Fans auf anderem Wege zu Wort melden. Mit Bannern, spontanen Treffen wie vor dem Revierderby. Wie wird das in der Fanszene gesehen?

Eine einheitliche Meinung dazu gibt es nicht und man muss auch nach zwei Ultra-Gruppen unterscheiden. Das Banner "Selbst Tönnies' Schweine zeigen mehr Kampf als ihr!" kam von den Marler Jungs. Es wird relativ kritisch gesehen. Dabei wurde die Mannschaft gar nicht, wie oft kritisiert, mit Schweinen verglichen. Aber es kommt für den unbefangenen Betrachter so rüber. 

Die vielseits als "Drohungen" verstandenen Worte vor dem Revierderby - von den Ultras Gelsenkirchen - hätte man sicher auch etwas anders formulieren können, aber ich glaube schon, dass die Mehrheit der Fans die grundsätzliche Erwartungshaltung teilt, beim Derby alles rauszuhauen, was geht.

Wie sehr ist die Corona-Pandemie schuld daran, dass es zu solchen Aktionen kommt?

Sie spielt schon eine große Rolle. Wenn sonst das Auswärtsderby anliegt, gehen die Gesänge im Stadion schon ein paar Partien vorher in diese Richtung. Meistens gibt es dann auch schon Banner mit unschönen Sprüchen gegen die Gelben oder die Aufforderung, sich den Hintern aufzureißen.

Aber das alles geht ja gerade nicht. Und gerade die Ultras Gelsenkirchen halten sich ja auch mit eigenen Aussagen in Sozialen Medien extrem zurück. Da erschien es ihnen vermutlich passender, das per Ansprache zu machen. Wenn man nochmal an früher denkt, wo Busse blockiert wurden und derlei, dann wird mir das Ganze auch zu hochgekocht, wenn auf einmal von 'Bedrohung der Mannschaft' die Rede ist. Für das Fußball-Umfeld war das alles, denke ich, okay. 

Haben Sie das Gefühl, dass derzeit eine Entfremdung der Schalke-Fans zu spüren ist?

Ich glaube nicht, dass das ein vereinsspezifisches Problem ist. Ich habe auch bei anderen Klubs mitbekommen, dass die Tatsache, dass man nicht mehr ins Stadion darf und auch die Atmosphäre bei Geisterspielen im Fernsehen eine andere ist, dazu führt, dass es einen emotional nicht mehr so mitnimmt. Es ist schon etwas komplett anderes, wenn man live dabei ist und "echten" Kontakt zu anderen Fans hat. Bei Schalke multipliziert es sich natürlich, weil einfach alles zusammenkommt: du kannst nicht ins Stadion, die Mannschaft spielt zum großen Teil Grütze, die Vereinsführung produziert einen Klops nach dem anderen. 

Ist es nicht schwierig, dass man sportlich auf Spieler setzt oder setzen muss, die man am liebsten schon lange los geworden wäre, wie zum Beispiel Nabil Bentaleb?

Vieles ist in diesem Sommer dem Corona-Transfermarkt geschuldet gewesen. Ich glaube nicht, dass sich ein Nabil Bentaleb als Typ geändert hat. Er kann was am Ball, keine Frage. Aber er ist sehr speziell, er ist sehr launisch. Im Zweifelsfall spielt er erstmal für sich und dann für die Mannschaft, das ist keine tolle Konstellation. Ich muss auch sagen: Bei mir hätte er im Derby nicht gespielt, da hätte ich auf Benjamin Stambouli gesetzt. Hinzu kommt aber vor allem, dass es derzeit alle nicht umgesetzt bekommen. 

In der Länderspielpause gab es ja zum Beispiel ein Testspiel gegen den SC Paderborn, die hat man locker 5:1 besiegt. Es ist also nicht so, dass sie alle nicht mehr Fußballspielen können. Aber durch die lange Negativserie ist eine große Blockade im Kopf.

Ist Schalke ein Abstiegskandidat, wie es beispielsweise Lothar Matthäus und Peter Neururer prophezeien oder wo sehen Sie den Klub?

Ich glaube erst einmal, dass ein Sieg eine absolute Befreiung wäre, um von dieser Horrorserie wegzukommen. Wenn man nach den Spielen in die Medien guckt, angefangen von der Sportschau bis zum kleinsten Schalke-Blog, geht es immer nur um die vielen Spiele ohne Sieg, die historische Niederlagenserie. 

Wenn wir mal wieder gewinnen könnten, wäre das raus aus den Köpfen. Und dann könnte sich das Team von der Leistungsstärke her sicherlich im unteren Mittelfeld einordnen. Das sollte drin sein mit diesen Spielern. Allerdings muss jetzt gegen Stuttgart und auch danach in Mainz gewonnen werden.

Was passiert sonst von Fan-Seite aus?

Wenn das jetzt wieder schiefgeht, rechne ich mindestens wieder mit Bannern auf dem Vereinsgelände. Das hat ja, als Tönnies noch im Amt war, schon angefangen. Da waren ja schon verschiedene Banner zu sehen. Damals noch eher in Richtung Vereinspolitik. Aber nun geht es ja weiter. Siehe das Tönnies-Schweine-Banner oder das Banner zu dem oberpeinlichen TikTok-Video. Sowas in der Richtung wird auf jeden Fall kommen. Andere größere Gemeinschaftsaktionen sind ja schwierig derzeit.

Neben der sportlichen Lage, welche Themen brennen den Fans noch auf den Herzen?

Das sind einige. Dass in diesem Jahr keine Mitgliederversammlung wegen Corona stattfinden konnte, ist maximal unglücklich in dieser Phase. Es hätte so viel Redebedarf gegeben. Sowohl in sportlicher Hinsicht als auch was den kompletten Turnaround in Sachen Ausgliederung angeht. Da müsste super viel besprochen werden, das baut nun Frust auf allen Seiten auf. 

Was meinen Sie mit "Turnaround"?

Bis einschließlich März dieses Jahr haben wirklich alle im Verein, Verantwortliche und Fans, unisono die Form "e.V." hochgehalten. Eswurde auch in den Finanzberichten immer beschworen, was das für ein tolles und werthaltiges Alleinstellungsmerkmal ist und dass wir uns ja ganz bewusst von den ganzen investorenbasierten Vereinen abgrenzen. Rund um das verlorene Revierderby im Mai hat Tönnies dann die Ausgliederung wieder auf den Plan gebracht. Und mittlerweile glaube ich auch, dass der Verein ehemalige Spieler bezahlt, dass sie Stimmung für die Ausgliederung machen. Klaus Fischer, der sich in sportlichen Dingen auskennen mag, bislang aber nie durch wirtschaftliche oder rechtliche Expertise geglänzt hat, hat zum Beispiel letztens darüber gesprochen.

Auf der Saisonbilanz-Pressekonferenz klang es jedenfalls noch so, als sei das Thema weit weg ...

Richtig. Alexander Jobst sprach davon, dass die erst die anderen Hausaufgaben gemacht werden müssen. Aber wenige Wochen später folgte ein Gastbeitrag im 'Handelsblatt', wo es hieß, dass ohne Ausgliederung nichts mehr zu reißen ist, weitere sechs Wochen später hieß es von Jobst im 'kicker': entweder Ausgliederung oder sportliches Niemandsland. Ich finde es dreist, dass man die Ausgliederung in einer Zeit, wo die Fans gar keine Möglichkeit haben, dagegen zu argumentieren oder das Thema wenigstens zu diskutieren, so forciert.

Es wirkt fast so, als stände Schalke mit dem Rücken zur Wand. Muss sich der Fan entscheiden: Ausgliederung oder Absturz?

Ich würde erstmal erwarten, dass man den Leuten reinen Wein einschenkt. Geht es wirklich ums Überleben, glaube ich schon, dass es wenige Schalker gibt, die sich der Ausgliederung verweigern würden. Oder geht es darum, so wie bisher weiter zu wirtschaften und nochmal hunderte Millionen mehr haben, die man genauso rausblasen kann wie zuvor. Hat der "e.V." eine realistische perspektive unter vernünftige wirtschaftlicher Führung oder sitzt und Peter Zwegat schon im Nacken? Zudem ist ja auch noch die Frage offen, welche Form eine Ausgliederung genau hätte. 

Jobst hat ja nebulös gesagt, man wolle ein Modell suchen, das zu Schalke passt. Da wurde unter anderem über eine Genossenschaft spekuliert, die es im deutschen Fußball ja noch gar nicht gibt. Sie sollen erst einmal die Hosen runterlassen, damit man drüber reden kann, ob das für die Mehrheit der Schalker denkbar ist. 

Wie sehen die Fans das Ganze denn genau?

Die Stimmung in den sozialen Medien ist eher in Richtung Ausgliederung gekippt, gerade, weil viele den leeren Worthülsen glauben oder Angst haben, dass Schalke sonst bald insolvent ist. Ob das am Ende für 75 Prozent, die man für einen Ausgliederungsbeschluss braucht, wage ich zu bezweifeln.

Glauben Sie, dass es auf der sportlichen Führungseben Veränderungen geben wird, wenn Siege weiter ausbleiben?

Jochen Schneider dürfte derzeit sicher im Sattel sitzen. Der Aufsichtsrat hat nach dem Aus von Tönnies viel zu sehr mit sich selbst zu tun und muss das Machtvakuum erst einmal füllen. 

Wie stehen die Fans zu Schneider?

Er wird in der Schalker Fanszene indifferent gesehen. Er ist ein bisschen blass, hat keinen Stallgeruch, auf der anderen Seite denkt man aber auch: Vielleicht brauchen die gerade jetzt einen so knochentrockenen schwäbischen Pragmatiker, der rettet, was zu retten ist und nicht das großspurige und riskante Modell fährt, das wir in der Vergangenheit zu oft hatten. Wenn ich jemanden schassen würde, dann eher Michael Reschke.

Warum?

Er wurde ja extra geholt, um preiswerte junge Spieler zu entdecken. Aber das, was wir bisher transfertechnisch auf die Bühne gebracht haben, ist schwach. Wir haben ja von extern so gut wie überhaupt nichts geholt. Wir ständen jetzt ohne Rechtsverteidiger da, wenn Manuel Baum nicht aus der U20 des DFB den Kilian Ludewig geholt hätte. Bevor man Schneider entlässt, würde ich erstmal darüber nachdenken, ob wir Reschke brauchen. Unsere Knappenschmiede wird nicht über ihn versorgt, die haben eigene Talentscouts, die zum Glück noch gut funktionieren und für die Mannschaft hat er bisher wenig gebracht. 


Zur Person: Susanne Hein-Reipen, geboren 1971, Schalke-Fan seit 1983, berichtet in ihrem Blog, auf ihrer Facebook-Seite "Susanne Blondundblau auf Schalke" sowie für das Portal "100ProzentMeinSchalke" von ihren Erfahrungen als Dauerkarteninhaberin und Vielfahrerin bei den Königsblauen. Sie gilt als intime Kennerin der Schalker Anhängerschaft. Zudem beschäftigt sich Hein-Reipen vereinsübergreifend mit Fußball- und Fankulturthemen.


Das Gespräch führte Chris Rohdenburg