Matthäus rät Nagelsmann zu taktischer Umstellung

Jetzt gilt es für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft: Mit Spanien wartet im Viertelfinale der Heim-EM der erste dicke Brocken auf die DFB-Elf von Bundestrainer Julian Nagelsmann. In seiner sport.de-Kolumne zur K.o.-Runde analysiert Rekordnationalspieler Lothar Matthäus die Chancen der Deutschen, rätselt über die schwachen Engländer - und rechnet mit Italiens EURO-Versagern ab.
Wie erwartet trifft Deutschland im EM-Viertelfinale auf die Spanier. Zum ersten Mal ist die deutsche Nationalmannschaft beim Heimturnier nicht in der Favoritenrolle, aber das heißt nicht, dass sie Außenseiter ist. Es ist ein offenes Spiel, 50:50. Beide Mannschaften haben bisher überzeugt, die Spanier vielleicht etwas attraktiver gespielt. Aber die Seleccion hat auch ihre Schwächen, vor allem im Umschaltspiel nach hinten, wie man gegen Georgien gesehen hat.
Deutschland ist aber anders als Georgien keine Konter-, sondern eine Ballbesitzmannschaft – genau wie Spanien. Beide sind im Rückwärtsgang verwundbar, diese Probleme gilt es von beiden Teams auszunutzen. Ich erwarte ein ausgeglichenes Spiel. Sowohl Deutschland als auch Spanien haben erfahrene Spieler in ihren Reihen, aber auch viel jugendlichen Elan und Geschwindigkeit.
Vielleicht ist es eine taktische Variante für Julian Nagelsmann, etwas vom Ballbesitz wegzugehen, dem Gegner den Ball mal für zehn Minuten zu überlassen, kompakt zu stehen, den Ball zu erobern, um schnell anzugreifen.
Matthäus: Nagelsmann sollte hinten nicht wechseln
Was die Aufstellung angeht, sollte sich der Bundestrainer freilich nicht nur nach dem Gegner richten. Kompaktheit und Leidenschaft werden dieses Spiel entscheiden, nicht ein einzelner Spieler. Nico Schlotterbeck hat in der deutschen Abwehr gegen Dänemark durchaus überzeugt und gezeigt, dass er eine Option ist. Ich bin aber sicher, dass Nagelsmann gegen Spanien wieder auf sein bewährtes Duo Jonathan Tah und Antonio Rüdiger setzt. Ich sehe keinen Grund für einen Wechsel.
Eher schon auf der linken Seite. David Raum ist offensiv stärker als Maximilian Mittelstädt, robuster, wahrscheinlich auch schneller. Dieser Wechsel war nachvollziehbar und ich gehe davon aus, dass Raum auch gegen die Spanier von Anfang an spielt.
Offensiv hat man sieben bis neun Spieler für vier Positionen. Da haben wir viele Alternativen mit hoher, auch unterschiedlicher Qualität. Es ist zum Beispiel gut, dass man einen Mann wie Thomas Müller hinten dran hat. Er spielt auf dem Platz bisher zwar noch keine große Rolle. Aber Müller hat Spaß und ist gut für die Kabine. Sein Job ist nicht mehr, 90 Minuten jedes Spiel zu spielen. Ich sehe ihn nicht als Gute-Laune-Onkel wie früher vielleicht Lukas Podolski.
Darum ist Thomas Müller so wichtig für Deutschland
Müller ist eine Persönlichkeit, eine Respektsperson in der Mannschaft und sicher ein Ansprechpartner für den Bundestrainer. Müllers Meinung zählt und er ist sicher so etwas wie ein verlängerter Arm von Julian Nagelsmann, ein Bindeglied zwischen Trainerteam und Mannschaft. Wenn Spieler dieser Güte ihre Rolle so annehmen, sind sie sehr wichtig für einen Kader.
Müller kann dazu auch sportlich noch wichtig werden. Wenn es mal 0:1 steht, ist seine Unberechenbarkeit wertvoll. Müller kann man nicht einschätzen, er ist ein Freigeist, der nicht so leicht auszurechnen ist. Er hat mit seiner Erfahrung ganz andere Fähigkeiten als andere Alternativen wie Chris Führich, Maximilian Beier oder auch Deniz Undav.
Mit England stimmt etwas nicht
Große Persönlichkeiten in ihrer Truppe haben auch die Engländer. Irgendwas stimmt mit den Three Lions allerdings nicht. Auch wir hatten 1994 mal eine Mannschaft, die von den Namen noch besser bestückt war als 1990, aber wir waren keine Einheit. Vielleicht fehlt das im englischen Team. Wenn man ein Spiel mal nicht so performt, okay. Viermal so unter seinen Möglichkeiten zu bleiben, deutet darauf hin, dass es Probleme gibt, womöglich zwischen Mannschaft und Trainer.
Dass sie gegen die Slowakei jetzt so glücklich weitergekommen sind, ist für die Engländer vielleicht aber auch so etwas wie ein Startschuss. Der Moment, in dem sie sich denken: Okay, jetzt beginnt das Turnier für uns auf dem Niveau, wie wir uns das vorstellen. Bei den Italienern war das nicht so – die sind immer noch schlechter geworden.
Womit wir bei meiner Enttäuschung der EM sind. Man muss nicht nur die italienischen Spieler für ihre schwache Leistung gegen die Schweiz kritisieren, sondern auch Trainer Luciano Spalletti. Ich habe in Berlin in der Halbzeit seine Ersatzbank studiert. Sich als Trainer so eine erste Halbzeit gefallen zu lassen, dann zehn Spieler auf dem Platz lassen und gar kein Zeichen setzen – absolut unverständlich.
Ich hätte in der Pause vier Spieler ausgewechselt, die gar nicht sichtbar waren, es gab gute Alternativen auf der Bank. Schlechter hätte es nicht laufen können. Spalletti, der als Taktikfuchs gilt, hat viele falsche Entscheidungen getroffen. Trotz des Bekenntnisses des italienischen Verbandes gehe ich davon aus, dass er die Squadra Azzurra in Zukunft nicht mehr trainiert.
Italiens Fußball-Seele kocht vor Wut
Die Tifosi sind zu Recht stinksauer und das nicht nur wegen des Ausscheidens, sondern wegen des Wie. Das ist die Schande. Auch Deutschland ist nach der WM in Katar zerrissen worden, hat da in der Vorrunde aber gar nicht so schlecht gespielt, vor allem offensiv. Bei den Italienern hat dagegen gar nichts gepasst: weder die Ergebnisse noch die Leistung. Es ist traurig, ein großes Fußball-Land so zu sehen – gerade, weil die italienischen Mannschaften und die Serie A wieder im Kommen sind, auch international.
Ich rechne damit, dass nicht nur der Trainer gehen muss, sondern auch der ein oder andere Spieler dieses wunderschöne azurblaue Trikot, dieses Trikot mit einer ganzen Fußballgeschichte, nicht mehr anziehen darf.
Lothar Matthäus