Der seltsame Fall des Matthias Sammer

Die Lage bei Borussia Dortmund hat ihren vorläufigen Chaos-Höhepunkt erreicht. Nach der nächsten Pleite in Bologna zieht der BVB Konsequenzen und stellt Trainer Nuri Sahin frei. Für Irritationen sorgt BVB-Berater Matthias Sammer in seiner markanten Rolle als TV-Experte.
TV-Experten sind eine ganz besondere Gattung im System Profifußball.
Die Männer und Frauen am Stehpult liefern sportliche Einschätzungen, garniert mit viel Meinung. Denn davon profitieren bestenfalls alle. Der Experte profiliert sich, die Zuschauer erhoffen sich Erkenntnisgewinn und Klartext. Der Sender freut sich über Aufmerksamkeit. Und die Medien bekommen die Schlagzeilen frei Haus geliefert.
Matthias Sammer nimmt seine Rolle für den Champions League übertragenden Sender "Amazon Prime" ernst. Das zeigte der Dienstagabend spektakulär.
Der desolate Auftritt der Schwarzgelben in Bologna (1:2) brachte den 57-Jährigen sichtbar an seine Grenzen. Sammer echauffierte sich über die Leistung des BVB mit teils drastischen Worten.
Sammer zerlegt Borussia Dortmund
"Die Mannschaft ist körperlich und geistig in einer Nicht-Verfassung. Das muss man einfach sagen. Wenn du das heute siehst, da ist die Grundlage nicht da", keilte er im Anschluss an die Partie gegen das Team.
Kann man eine Mannschaft noch mehr anzählen? Und den Trainer gleich mit?
Die Sache ist: Mit seiner schonungslosen Analyse hat Sammer vermutlich in weiten Teilen recht. Das zeigen die Ergebnisse und erschreckenden Auftritte in Italien, Frankfurt, Kiel und zu Hause gegen Leverkusen. Der BVB 2025 ist nicht mehr der BVB vergangener Tage. Ein Gigant wankt.
Der Mannschaft fehlt es aktuell so ziemlich an allem. Trotz der Verletzung- und Erkrankungssorgen machte der Klub deutlich zu wenig aus dem Kader mit unzähligen Nationalspielern.
Diese sportliche Analyse kann man Sammer nicht wirklich vorwerfen.
Für Verwunderung sorgt bei Beobachtern allerdings die Tatsache, dass Sammer nun mal nicht nur im System TV, sondern gleichzeitig auch im System BVB engagiert ist.
Seit 2018 fungiert er als Berater des Klubs, arbeitete zunächst vor allem Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke zu. Heißt: Er ist Teil des großen Ganzen, das er jetzt selbst in seiner TV-Funktion in alle Kleinteile zerlegt hat.
Was ist das nun? Einfach ehrlich? Bizarr? Drüber? Fehl am Platz? Etwas von allem?
"Kann dem BVB nicht gefallen"
Für RTL-Reporter und BVB-Experte René Langhoff ist Matthias Sammer am Dienstagabend weiter aus seiner Rolle gefallen. Denn dessen Ansage ließ sich auch als vorläufige Entlassungsrede für Sahin interpretieren. Gab es nach diesen Sammer-Sätzen überhaupt noch ein Zurück? Vermutlich nicht.
"Er ist Berater. Das Urteil, dass er nach dem Spiel gefällt hat, war fast schon die Entlassung des Trainers. Es war ein vernichtendes Urteil", sagt Langhoff. "Das hat gar keinen anderen Schluss zugelassen, dass der Verein den Trainer entlassen wird. Man weiß um die Nähe von Sammer zu Lars Ricken."
Zwar hatte der BVB-Geschäftsführer nach dem Spiel zunächst die Zukunft von Sahin als BVB-Coach offen gelassen. Aber in der Nacht fiel dann die Entscheidung: Mit Sahin geht es nicht weiter.
Der TV-Auftritt sorgt dann für folgendes Sammer-Problem: In diesem Moment entstehe der Eindruck, dies sei nicht nur seine persönliche Meinung, sondern auch ein Stück weit die Meinung von Lars Ricken, so BVB-Experte Langhoff. "Das ist das Problem seiner Funktion als Berater und Experte. Das kann dem BVB in solchen Momenten nicht gefallen."
Was macht Sammer beim BVB?
Sammer ist Teil der Elefantenrunde der Dortmunder. Er gibt in seiner Funktion als externer Berater auch seine Einschätzungen zu möglichen Transfers ab. Aber: Die Entscheidung über diese liegt nicht bei ihm, sondern bei Sportdirektor Sebastian Kehl und Geschäftsführer Ricken. Sven Mislintat ist Technischer Direktor, macht ebenfalls Vorschläge. Wie groß wirklich Sammers Einfluss bei der aktuellen Kaderumsetzung war, ist also unklar. Man weiß es schlicht nicht.
"Sammer macht keine Transfers, er gibt seine Meinungen zu wichtigen Themen ab. Dafür ist er da. Man muss allerdings hinterfragen, was das gebracht hat", sagt Langhoff. "Seit Sammer als Berater tätig ist, hat sich kein großer Erfolg eingestellt. Das, was man sich da erhofft hat - mehr Reibung, mehr Meinung - hat an der Stelle nicht funktioniert."
Die verfehlte Transferpolitik der Dortmunder ist jedoch eine der Hauptpunkte für die immer schlimmer werdende Krise.
Was dem BVB früher mit Erling Haaland, Ousmane Dembélé oder Jude Bellingham gelungen ist - Transfer-Werte schaffen, junge Spieler zu Stars entwickeln und dann zu gigantischen Summen verkaufen - das gelingt zunehmend nicht mehr. Auch die Top-Transfers dieser Saison, namentlich Serhou Guirassy, Waldemar Anton und Pascal Groß waren bisher nicht die erhoffte Top-Verstärkung.
Transferpolitik schlägt fehl
Gleichzeitig fehlen Identifikationsfiguren wie die Ur-Dortmunder Marco Reus oder Mats Hummels, die nicht adäquat ersetzt werden konnten. Ein Mix, der den Klub in Richtung Abgrund reißt. Auf diese neue Transfer-Realität der jüngsten Geschichte hat keiner eine Antwort gefunden, auch nicht Sammer.
Im Sommer war darüber spekuliert worden, ob der EX-BVB-Profi sogar als Nachfolger von Watzke, der Ende 2025 aus seinem Amt scheidet, aufgebaut werden könnte. Diese Rolle schloss Sammer aber aus, er blieb in seiner Berater-Rolle.
Durchaus überraschend kam derweil, dass Sammer in diesem Job auch unter Ricken weitermachte. Der Eindruck entstehe, so BVB-Experte Langhoff, dass Watzke seinem Nachfolger Sammer an die Hand gegeben habe, um vielleicht selbst weiter etwas ein Ohr an der Geschäftsführung zu haben.
Ob Sammer in der kommenden Saison weiter auch öffentlich den BVB analysieren wird, ist noch offen. Aktuell hechelt das Team den Champions-League-Rängen mit sieben Zählern Abstand hinterher.
Für den Berater Sammer wäre das Verpassen der Königsklasse ein GAU, für den Experten Sammer vielleicht eine wohltuende Pause: Seine Doppelrolle wäre dann sicher kein Problem mehr.