06.07.2018 12:12 Uhr

"Professor" Tite führt Brasilien zurück zu alter Stärke

Brasiliens Trainer Tite wird wegen seiner Vorträge
Brasiliens Trainer Tite wird wegen seiner Vorträge "Professor" genannt

Tite hat Brasilien nach dem 1:7-Trauma von Belo Horizonte den Glauben an die eigene Stärke wiedergegeben - mit einer starken Defensive und dem geliebten "jogo bonito".

Adenor Leonardo Bacchi doziert, die Zuhörer im überfüllten Hörsaal lauschen aufmerksam. Er berichtet, wie er seinen Studenten seine Theorien erklärt hat, welche Kollegen ihm welche Konzepte nahegebracht haben. Er streut Anekdoten ein, erntet Lacher, schmunzelt zufrieden. Der grauhaarige Herr mit dem Namen eines Zirkusdirektors ist kein Hochschullehrer, der Raum mit den ansteigenden Sitzreihen gehört nicht zu einer Universität, sondern zur WM-Arena in Kasan. Und der "Professor" ist Tite, der Retter des brasilianischen Fußballs.

Der 57-Jährige macht eine Pressekonferenz zu einer Vorlesung. Die lässt erahnen, wie er die glorreiche Selecao, die nach der 1:7-Schmach im WM-Halbfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland vor vier Jahren in Trümmern lag, wieder aufrichtete. Wie er den traumatisierten Stars den Glauben an die eigene Stärke und den Fans das geliebte "jogo bonito", das schöne Spiel, wiedergab. Wie er aber auch Ballkünstler wie Neymar von der Notwendigkeit des Verteidigens überzeugte. Sie alle, erzählt er nicht ohne Stolz, hätten gleich reagiert: "Danke, Professor."

Tite hätte sich gerne selbst als Trainer gehabt

Auf die Frage, wie er seine Spieler auf ein mögliches Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen Belgien vorbereite, obwohl er selbst vor 30 Jahren einen Strafstoß verschossen habe, antwortet er mit einem Lachen. Und der genauen Schilderung, wem er was gesagt habe, um ihn von seiner mentalen Stärke zu überzeugen. Gefolgt von der Anmerkung, er hätte sich damals als Spieler beim FC Guarani auch eine solche Einweisung gewünscht. Der Subtext: Tite hätte gerne Tite als Trainer gehabt.

Denn als solcher feiert Adenor Leonardo Bacchi die Erfolge, die ihm als Spieler verwehrt blieben. Auch weil er seine Karriere schon mit 27 Jahren nach acht Operationen beenden musste. Corinthians, den Klub der Massen aus Sao Paulo, führte er nicht nur zweimal zum Meistertitel, sondern auch 2012 zum einzigen Triumph in der Copa Libertadores und bei der Klub-WM.

Als Brasilien bei der WM im eigenen Land krachend gescheitert war, galt Tite, dessen Familie aus Italien stammt, als der logische Nachfolger für Luiz Felipe Scolari. Doch der frühere Stuttgarter Bundesliga-Profi Dunga übernahm. "Verärgert, frustriert, verletzt" war Tite, der erst nach dem Vorrunden-Aus der Selecao bei der Copa America 2016 und der Entlassung Dungas zum Zug kam. In den 25 Spielen vor dem WM-Viertelfinale verlor sein Team nur ein Spiel, kassierte nur sechs Gegentore.

Besonderes Verhältnis zum Mentor Scolari: "Ruf doch die Polizei!"

Mit seinem Vorvorgänger Scolari verbindet ihn eine besondere Beziehung. Einst entdeckte Filipao den jungen Mittelfeldspieler, als er mit 17 bei seinem Heimatklub Caxias vorspielen durfte und noch auf den Rufnamen Ade hörte. Scolari verpasste ihm den Spitznamen Tite - aufgrund einer Verwechslung. Der ebenfalls zum Probetraining eingeladene Altemir, der sich so nannte, war nicht erschienen.

Mittlerweile herrscht zwischen beiden Funkstille. In einer Biografie warf Tites Bruder Scolari vor, 2010 mit Palmeiras absichtlich gegen den späteren Meister Fluminense verloren zu haben, um Tite und Corinthians zu schaden. Als die beiden Trainer sich wenig später beim direkten Duell der beiden Lokalrivalen aus Sao Paulo gegenüberstanden, lieferten sie sich ein heftiges Wortgefecht. "Du schwafelst viel", rief Tite, "willst du selbst pfeifen? Ruf doch die Polizei!"

Seine Emotionalität hat der 57-Jährige auch als Nationaltrainer nicht verloren. Wenn sein Superstar Neymar wieder einmal gefoult wird, gestikuliert er wild am Spielfeldrand und redet lautstark auf den Vierten Offiziellen ein. Wie ein "Professor" wirkt er dann überhaupt nicht mehr.