05.03.2021 12:10 Uhr

Radio-Legende: Darum packt Bochum den Aufstieg

Radioreporter Günther Pohl, hier bei der Zweitliga-Partie HSV vs. VfL Bochum
Radioreporter Günther Pohl, hier bei der Zweitliga-Partie HSV vs. VfL Bochum

Zum ersten Mal in der laufenden Saison hat der VfL Bochum die Tabellenführung in der 2. Fußball-Bundesliga übernommen. Den Platz an der Sonne will die Mannschaft von Cheftrainer Thomas Reis nun bis zum 34. Spieltag verteidigen, um nach elf langen Jahren endlich die Rückkehr ins Oberhaus klarzumachen.

Deutschlands wohl größter VfL-Bochum-Experte Günther Pohl ist überzeugt davon, dass dem Klub aus dem Ruhrgebiet in diesem Jahr der Wiederaufstieg gelingen kann. "Dem VfL Bochum ist momentan wirklich alles zuzutrauen", ist sich der Sportjournalist und Live-Reporter von "Radio Bochum" sicher. 

Pohl hat 1139 der letzten 1141 Pflichtspiele des VfL live im Stadion miterlebt und kennt die Gründe für den Aufschwung des Traditionsvereins aus dem Ruhrgebiet.

Mit weltfussball.de sprach Günther Pohl exklusiv über die bevorstehenden "Wochen der Wahrheit" der Bochumer gegen Fürth, den Hamburger SV und Holstein Kiel, bevorstehende Spielerverkäufe sowie die erneute Talfahrt des HSV in der heißen Phase des Aufstiegsrennens.  

Herr Pohl, der VfL Bochum grüßt elf Spieltage vor Saisonende zum ersten Mal von der Tabellenspitze. Was macht das mit der Mannschaft um Trainer Thomas Reis?

Günther Pohl: Der VfL wird einerseits durch die Tabellenführung zusätzliches Selbstbewusstsein entwickeln. Andererseits schärft die Tabellenführung die Sinne. Was man sich in 23 Spieltagen hart erarbeitet hat, das möchte man natürlich nicht auf der Zielgeraden verspielen. Deshalb ist die Mannschaft hochkonzentriert und ist fokussiert auf das unerwartete Ziel; denn vor der Saison hat weder jemand über den Aufstieg gesprochen, noch daran gedacht.

Die nächsten Wochen können vorentscheidenden Charakter haben, es geht in den kommenden vier Spielen gegen drei direkte Konkurrenten. Was ist dem VfL in diesen Spielen zuzutrauen?

Dem VfL Bochum ist momentan wirklich alles zuzutrauen. Wenn man die 23 Spiele Revue passieren lässt, dann fällt mir eigentlich nur ein einziges Spiel ein, in dem der VfL von der ersten Minute an chancenlos war: Das Hinspiel gegen Greuther Fürth, als Bochum mit 0:2 verloren hat. Seit dem hat der VfL eine andere Mannschaft und sich total verändert, was die Einstellung und die Aufgabenverteilung anbelangt. 

In Hamburg hat der VfL in der Hinrunde gewonnen und auch in Kiel war er trotz der Niederlage die bessere Mannschaft. Ich glaube schon, dass der VfL sich mit den anderen Vereinen auf Augenhöhe befindet und deswegen blicke ich diesen Spielen gegen die ersten Drei aus der Tabelle ganz zuversichtlich entgegen. Aber: Bei dieser Liga weiß man gar nichts vorher!

Der Hamburger SV holte in der Rückrunde erst einen Sieg, ist 14. der Rückrundentabelle. Was sind die größten Probleme des HSV, der in der Hinserie so gefestigt und stabil wirkte unter Daniel Thioune?

Der HSV ist im Moment wirklich ein Rätsel. Aber ich glaube auch, dass die Sinne ein bisschen vernebelt waren, als die Mannschaft so eine tolle Hinrunde gespielt hatte. Der HSV lebte von Simon Terodde, der viele Schwächen zugedeckt hat. Jetzt plötzlich in den letzten Spielen trifft Simon Terodde nicht mehr und es gibt sonst keinen, der in seine Fußstapfen treten kann. Der HSV ist hochklassig besetzt. Aber ohne die Tore von Terodde scheint er große Probleme zu bekommen. 

Bochum stellt mit 43:23 Toren den drittbesten Angriff und die zweitbeste Abwehr der Liga. Woher kommt diese ungewohnte Ausgeglichenheit und Balance in dieser Saison?

Thomas Reis ist es gelungen, diese Balance tatsächlich herzustellen. Die beiden Außenverteidiger sorgen für unheimlich viel Tempo nach vorne. Und wer mal über 90 Minuten Simon Zoller beobachtet, wie der jeden Ball des Gegners in der Offensive anläuft und wie der ackert, dann weiß man auch, dass die Offensiven begriffen haben, dass man Spiele in der Abwehr gewinnt. Diese Mentalität hat Thomas Reis in unnachahmlicher Weise hervorgerufen und zum Leben erweckt.  

Auch in Corona-Zeiten ist Günther Pohl von der Pressetribüne des VfL Bochum nicht wegzudenken
Auch in Corona-Zeiten ist Günther Pohl von der Pressetribüne des VfL Bochum nicht wegzudenken

Wer sind in 2020/2021 die entscheidenden Figuren auf dem Feld, die den Unterschied zugunsten des VfL ausmachen?

Fünf Euro fürs Phrasenschwein: Der Erfolg hat viele Väter! Zum einen ist es Manuel Riemann, ein absoluter Gewinnertyp. Vielleicht nach Manuel Neuer der beste Torwart mit dem Fuß. Ein Mentalitätsmonster. Mit seiner lauten Ansprache reißt er die jungen Abwehrspieler, die er da vor sich hat, einfach mit.

Dann ist natürlich der Kapitän Toto Losilla zu nennen. Ein total ausgeglichener Typ, in Bochum fast schon als legitimer Nachfolger vom Urgestein "Ata" Lameck angesehen. Der trinkt auch mal nach einem Heimsieg mit seinen Kollegen zwei Bier in der Kabine und lässt dann die Reporter ein wenig warten – trotzdem total kooperativ und hilfsbereit, die Seele des VfL!

Vorne ist da Robert Zulj, der ist unangenehm für Gegenspieler, unangenehm und schwierig für Journalisten. Ein richtiger Typ – und ein genialer Kicker! Und natürlich Simon Zoller, der seinen zweiten Frühling beim VfL erlebt. Ich könnte noch ein paar andere nennen. Es stimmt die Mischung und das macht optimistisch. 

Aufgrund der Geisterspiel-Atmosphäre unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist es schwer zu greifen: Wie ist die Stimmungslage in der Stadt? Glauben die leidgeprüften Fans überhaupt schon an den möglichen Aufstieg?

Tja, wenn man seit Übernahme der Tabellenführung in die Sozialen Medien schaut, dann ist dort richtige Euphorie angesagt. Es scheint, als ob der VfL auch seine Fans aus dem Dornröschenschlaf erweckt hat. Nach vielen Jahren Tristesse in der Liga vermittelt der VfL seinen Fans momentan große Freude. Sie glauben einfach daran, dass in diesem Jahr der Traum vom Wiederaufstieg endlich Wirklichkeit werden kann.

Wie stehen die Chancen beim VfL, einen offensichtlich harmonischen Kader über den Sommer 2021 hinaus zusammenhalten zu können?

Der VfL hat eigentlich immer verkaufen müssen. Sodass es unabhängig vom Aufstieg eine echte Überraschung wäre, wenn man alle Leistungsträger halten kann. Das wäre fast schon eine kleine Sensation. Warum? Der Verein macht während Corona ein Minus von neun Millionen Euro, das steht definitiv fest. Somit ist der VfL quasi gezwungen, einen Leistungsträger zu verkaufen.

Wenn ein attraktives Angebot für das Tafelsilber kommt, und das sind vor allem die beiden jungen Innenverteidiger Leitsch und Bella-Kotchap, dann kann und darf der VfL bei einer bestimmten Summe einfach nicht Nein sagen. Die Existenz des Klubs ist noch vor dem sportlichen Erfolg anzusiedeln.

Wie lauten die ersten drei Tabellenplätze am 23. Mai – nach dem letzten Spieltag in der 2. Bundesliga?

Für mich wird der HSV Erster, weil ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass er dieses Jahr zum dritten Mal in Folge den Aufstieg vergeigt. Zweiter wird der VfL Bochum – da bin ich vielleicht auch nicht objektiv. Dritter wird für mich die SpVgg. Greuther Fürth, weil die Mannschaft neben dem VfL den wenigsten Druck hat und sie wirklich gut Fußballspielen kann. Ich sehe da einen kleinen Vorteil gegenüber Holstein Kiel. Die Kieler müssen wahrscheinlich der Tatsache, dass sie im Pokal gegen Bayern München gewonnen haben, Tribut zollen. Ich glaube, dass der Pokal vom Wesentlichen, nämlich vom Alltag und der Meisterschaft, ablenken kann, und deshalb habe ich bei Holstein Kiel so meine Bedenken.  

Das Gespräch führte Mats-Yannick Roth