16.06.2024 12:08 Uhr

Der Titelverteidiger zerschellt nicht an der roten Wand

Die albanische Mannschaft wurde nach Abpfiff gefeiert
Die albanische Mannschaft wurde nach Abpfiff gefeiert

Dortmund hat plötzlich eine Rote Wand. Abertausende Fans der albanischen Nationalmannschaft nehmen die Fußballmetropole ein und sehen zum Gruppenauftakt beinahe eine EM-Sensation. Am Ende bleibt nur der Sieg auf den Rängen.

Manchmal braucht’s nur 23 Sekunden. So lange dauerte es an diesem Samstagabend, um das Dortmunder Stadion, das ohnehin schon angezündet war, komplett zu entflammen.

Nach einem katastrophalen Fehl-Einwurf des Italieners Federico Dimarco hatte Albaniens Außenstürmer Nedim Bajrami, der sein Geld in Italien bei Sassuolo verdient, freie Bahn vor Gianluigi Donnarumma und zimmerte den Ball aus spitzem Winkel unter die Latte. Und das vor der eigenen Fankurve. Der Roten Wand in Dortmund.

Es folgten Sekunden der Eskalation. So laut war das Stadion selten. Der Außenseiter lebte und bebte. Ein gewaltiger Kollektiv-Schrei ging durch die Arena zusammen mit Bierbecherwurf-Alarm. Da segelten links und rechts die Bierbehälter an der Medientribüne vorbei (und auch mitten rein). Die rote Hölle verschluckte kurzerhand den Titelverteidiger.

Die Wucht der Roten Wand hält dem Druck Italiens nur zehn Minuten stand

Nebenbei stellte Bajrami mit dem Treffer einen EM-Rekord auf. Noch nie schoss ein Spieler bei einer EM-Endrunde ein schnelleres Tor. Albanien, das stand nach eben 23 Sekunden fest, hatte sich standesamtlich bei dieser EURO angemeldet. Tirana ist dann auch da.

Abgezeichnet hatte sich das albanische Freudenfest schon den ganzen Tag über. Farbenfroh tummelten sich die Anhänger in der westfälischen Stadt, um ihre Nationalmannschaft und die zweite EM-Teilnahme nach 2016 zu feiern. Rot, wohin man sah. In der Stadt, vorm Stadion, im Stadion. Mit einzelnen grün, weiß, roten Sprenkeln. Albanien hat in diesem ersten Spieltag ein Heimspiel in Dortmund und ließ das auch alle wissen.

Geschätzt 50.000 albanische Fans, bestätigt ist diese Zahl von den Behörden aber nicht, sollen den Weg in die Ruhrmetropole gefunden haben und feierten ein friedliches rot-schwarzes Fest.

Nach Polizeiangaben gab es nur am späten Nachmittag einen Zwischenfall. Um 16 Uhr seien 50 "Hochrisiko-Fans" aus Italien in der Innenstadt festgesetzt worden, teilte die Polizei Dortmund mit. Diese bewaffneten Fans sollen sie einen Angriff auf albanische Anhänger geplant haben. "Wir haben das sofort unterbinden können", teilte ein Polizeisprecher auf Anfrage von sport.de mit. Die 50 Problemfans seien in Polizeigewahrsam gebracht worden. Ansonsten: "Alles sehr friedlich", teilte ein Polizeisprecher mit. Zehntausende feierten in den Fan Zones und der Stadt.

Fußball-Party in Dortmund: "Alles friedlich"

Auch am Abend nach dem Spiel blieb vorerst alles entspannt. Es habe eine "unkritische Abreisephase" gegeben, am Stadion und den Fan Zones habe es sich "schnell geleert", so ein Polizeisprecher im Gespräch mit sport.de "Alles unproblematisch".

Den Tag über herrschte Ausnahmeparty-Stimmung in Dortmund. Dort, wo sonst alles schwarz-gelb getupft ist, färbte sich am Samstag fast alles in Rot. An den zentralen Orten der Stadt dominierten die Fans der "Kuq e zinjtë", der Rot-Schwarzen. Schon früh setzten die Anhänger zum Autokorso an, hupten und zeigten ihre Landesflagge. Dortmund in albanischer Hand.

Gemeinsam strömten sie dann von der Reinoldikirche dem Fußball-Tempel entgegen. Drei Jugendliche mit albanischen Wurzeln, aus Hamburg angereist und in Rot gekleidet, blicken mit großen Augen aufs größte Stadion dieser EM. "Einfach nur Vorfreude", empfinden sie und hoffen auf einen Auftaktsieg. Die italienischen Tifosi standen teils staunend vor dem Eingang. Das sei schon "wie bei einem Auswärtsspiel", sagt einer. "Aber das wird schon". Sportlich erwartet er dennoch großes von der EM-Wundertüte Italien.

"Viertelfinale?", wird er gefragt. "Ne ne, Finale muss schon sein – Titel". Si si. Dann kommt schon der italienische Bus angerollt. Das blaue Team, es wird gnadenlos niedergebuht – kennt man in Dortmund. Zehn Minuten fährt der albanische Teambus vor und die Stimmung dreht auf, es wird mächtig laut.

So defensiv die albanische Mannschaft auf dem Platz geprägt ist, so stürmisch offensiv zeigten sich die vielen Fans, die teils mit traditioneller albanischer Kopfbedeckung ins Stadion kamen und eine Heimspielatmosphäre erzeugten. Schon beim Warmmachen wurden die Verhältnisse deutlich. Massives Pfeifkonzert für die Italiener, Ekstase und lautstarker Applaus, als die Albaner einlaufen. Auf den Rängen ging die Anfangsphase klar an die Roten. Es ist dermaßen laut – es könnte tatsächlich ein Revierderby sein.

Albanien, immerhin souverän Erster in der EM-Qualigruppe mit Tschechien und Polen, wollte dem Titelverteidiger gleich mal ein Bein stellen. In der schwierigen Gruppe B mit Kroatien und Spanien ist ein guter Start umso wichtiger.

EM-Wundertüte Italien

Und Italien? Irgendwas zwischen "Ein bisschen"-Favorit und heißer Tipp auf Favoritensturz. Titelverteidiger klar, aber rund um den EM-Coup 2021 verpasste man zwei Mal die WM-Teilnahme. Bittere Rückschläge. Unter dem neuen Trainer Luciano Spalletti, der im September 2023 für den nach Saudi-Arabien und eine Menge Petrodollar abgewanderten Roberto Mancini das Team übernommen hatte, fanden die Azzurri in der Quali in die Spur. In acht Spielen gab es nur eine Niederlage - gegen England, hinter den Three Lions qualifizierte sich Italien dann auch als Zweiter für die EM.

Es ist eine Mannschaft ohne die großen Namen, ohne die großen Stars, vor allem im Sturm. Kein Immobile, kein Verratti – und dann auch noch das erste Turnier seit 2006 ohne die Defensiv-Großmeister Giorgio Chiellini oder Leonardo Bonucci.

Apropos 2006. An Dortmund haben sie in Italien gute Erinnerungen. Beim vergangenen Großturnier in Deutschland schmiss die Squadra Azzurra hier die deutsche Sommermärchen-Mannschaft brutal raus. Kurz darauf holte Italien den WM-Pokal.

Und nicht zu vergessen: Die italienische Liga kann Anspruch auf den Titel als die Beste Europas erheben. Sieben Klubs aus der Serie A erreichten in der Saison 2023/24 das Achtelfinale in einem der drei europäischen Wettbewerbe. Atalanta gewann die Europa League, Florenz stand im Finale der Conference League. Durch die guten Leistungen sicherte sich die Serie A im UEFA-Einjahresranking den ersten Platz und einen zusätzlichen CL-Startplatz.

Guess who's back?

All das nutzte nichts, um nach 23 Sekunden die eiskalte Dusche zu verhindern. Bajrami traf, das Stadion explodierte.

In diesen Momenten schien die erste Sensation des Turniers greifbar. Der Favorit wankte mitten rein in die rote Hölle.

Doch dann passiert etwas, das nicht unbedingt zu erwarten war. Der Gigant zog sich ganz schnell am eigenen Schopfe wieder aus dem Schlamassel heraus. Schon nahezu im Gegenzug gelang der Spalletti-Elf der Ausgleich.

Italien schüttelte und berappelte sich. Auf den historischen Schock folgt der Doppelschlag. Nach einer schönen Flanke von Lorenzo Pellegrini nickte Innenverteidiger Alessandro Bastoni (11.) zum Ausgleich ein. Nur fünf Minuten später verwandelte Nicolo Barella traumhaft einen Schuss aus der Distanz ins linke Eck. 2:1. Guess who’s back.

Dann wird's doch etwas leiser

Und siehe da: Erstmals wurde es etwas leiser im Stadion. Der eiskalte Favorit ließ die Muskeln spielen und hätte durchaus noch höher führen können.

In der 33. Minute chippte Davide Frattesi den Ball an den Pfosten, auch weil der wache Keeper Thomas Strakosha noch leicht dran war. Sieben Minuten später parierte Strakosha erneut stark gegen Gianluca Scamacca.

Das Grundrauschen im Stadion wurde nun merklich leiser, vor allem im zweiten Abschnitt. Das Potential immer noch da. Vor allem, wenn die Albaner in den Angriff kamen, was aber immer seltener passierte. Die Gesänge verloren an Dezibel-Wucht. Ganz so, als würden die Fans selbst nicht mehr ganz an dieses kleine Fußball-Wunder glauben.

Der Europameister von 2021 spielte nun abgeklärt, wie man das von einer italienischen Mannschaft erwartet. Vor allem Barella und Federico Chiesa rissen das Spiel an sich. Italien jetzt doch wie ein Spitzenteam.

Der eingewechselte Arber Hoxha animierte der albanische Zuschauer nochmal, alles zu geben. Allein: Aus dem Spiel heraus gelang "Kuq e zinjtë“ wenig. Die wohl größte Chance ließ Rey Manaj kurz vor Abpfiff liegen. Es blieb beim 1:2.

Dann pfiff der souveräne deutsche Schiedsrichter Felix Zwayer ab.

Während Albanien vermutlich zu Recht Anspruch auf den imaginären Titel Stimmungs-Europameister erheben wird, bleibt Italien noch ein EM-Rätsel.

Wenn sie die mangelnde Chancenverwertung abstellen, ist mit ihnen zu rechnen. "Es hätte einige Male schiefgehen können. Manchmal waren wir etwas zu bequem", nörgelte Coach Spalletti.

Nach Abpfiff spielte die Stadion-Regie den Klassiker "Un‘ estate italiana“ ein. Ein italienischer Sommer? Zuzutrauen ist dem Team von Spalletti nach dem überstandenen Abend in der roten Hölle das allemal.

Emmanuel Schneider, Dortmund