19.11.2024 14:53 Uhr

Sorry, Lothar Matthäus, aber das ist zu einfach

RTL-Experte Lothar Matthäus hat einen
RTL-Experte Lothar Matthäus hat einen "Appell an die Deutschen" gesendet

Nachdem RTL am Montag exklusiv berichtet hatte, dass der DFB für die WM-Vergabe nach Saudi-Arabien 2034 stimmen wird, setzte sich Rekordnationalspieler Lothar Matthäus in einer Botschaft und mit einem "Appell an die Deutschen" gegenüber dem TV-Sender vehement dafür ein, die Kritik an der Turnier-Ausrichtung im Wüstenstaat zurückzufahren. Aus Sicht von sport.de-Redakteur Chris Rohdenburg macht es sich der TV-Experte allerdings dabei in einigen Bereichen zu einfach. Ein Kommentar:

Als Lothar Matthäus nach dem 7:0-Kantersieg des DFB-Teams gegen Bosnien und Herzegowina von RTL auf die anstehende WM-Vergabe nach Saudi-Arabien und mögliche Kritik an derselben angesprochen wurde, redete sich der 63-Jährige in Rage. "Wir machen hier wieder ein Fass auf und sind wahrscheinlich das einzige Land, das wieder kritisiert", sagte er unter anderem. 

Dabei ließ Matthäus allerdings unter den Tisch fallen, wie wichtig es ist, darauf hinzuweisen, dass es in Saudi-Arabien bei essenziellen Menschenrechten, die für das friedliche und vor allem freie Zusammenleben in einer Gesellschaft wichtig sind, dringenden Nachholbedarf gibt. Zu abstrakt? Schauen wir nur einmal beispielhaft und kurz auf einige Anstandsregeln im erzkonservativen muslimischen Königreich.

Alkohol und laute Musik? Verboten! Zu normaler Musik tanzen? Nur auf Hochzeiten erlaubt. Frauen müssen bei einer Durchschnittstemperatur von 28 Grad Celsius im Wüstenstaat Schultern und Knie bedecken, sich möglichst nicht körperbetont kleiden. Auch Männer sollten keine kurzen Hosen anziehen. Küssen? Ebenfalls verboten.

War Katar wirklich eine "Bomben-Weltmeisterschaft"?

Trotz allem ist laut Matthäus ein stimmungsvolles Fußball-Turnier in Saudi-Arabien möglich, wie er mit einem Vergleich zur WM 2022, die unter ähnlich strikten Voraussetzungen ausgetragen wurde, andeutete. "Das in Katar war eine Bomben-Weltmeisterschaft! Nur einem Land hat es nicht gefallen – das muss ich ganz offen sagen: Das war Deutschland."

Ob Matthäus mit dieser Aussage richtig liegt, darf bezweifelt werden. Was der TV-Experte auf jeden Fall offenbar vergessen hat, sind die Bilder, die nur anderthalb Jahre später die EM 2024 in Deutschland erzeugte: Egal ob ausgelassene Fanfeste in den Innenstädten mit kulturellem Austausch, die Schotten, die für Bierknappheit in München sorgten oder die viel beachteten holländischen Fan-Märsche und Tänze. "Nach links, nach rechts", kaum vorstellbar, dass diese Emotionen, nach denen sich alle gesehnt haben, in den Straßen von Riad, Dschidda und Co. gezeigt werden dürfen.

Und so muss zumindest jetzt gefragt werden, ob es die richtige Entscheidung des Deutschen Fußball-Bundes ist - wie von RTL exklusiv berichtet - für eine WM in Saudi-Arabien zu stimmen.

DFB-Präsident Bernd Neuendorf räumte erst vor gut einem Jahr beim "SWR" im Rückblick auf die Katar-WM ein, dass der Verband hätte klarer "sein müssen in der Positionierung, wenn es um gesellschaftliche und politische Verhältnisse" geht. Weil Saudi-Arabien ohnehin der einzige Kandidat für die WM 2034 ist, könnte hier zumindest eine Enthaltung statt einer Befürwortung ein Zeichen setzen - und zwar dieses Mal rechtzeitig im Vorfeld und nicht erst, wenn die WM beginnt. Mit Grauen erinnert man sich an das Chaos um die "One Love"-Binde.

Saudi-Arabien hat "erschreckende Menschenrechtsbilanz"

Hier liegt Matthäus mit seiner Forderung nun ganz richtig, wenn er sagt: "Und lasst die Jungs in Ruhe. Lasst den Spielern ihre Freude auf die WM. Die Jungs wollen Fußball spielen und die Fans eine gute deutsche Mannschaft sehen." In der Tat sind Jamal Musiala und Co. nicht die richtigen Ansprechpartner für gesellschaftspolitische Fragen, die bis in den Sport hineinwirken.

Das betonte auch Julian Nagelsmann jüngst gegenüber RTL/ntv. "Dafür haben wir die Fachmänner, die sich um diese Dinge auch kümmern. Wir sind die Fachmänner für den Sport und kümmern uns um den Sport." Zwar habe er als Privatperson eine Meinung, müsse diese aber nicht jedem mitteilen.

Zu jenen "Fachmännern" gehört aber definitiv Amnesty International. Die Organisation wies erst kürzlich im Hinblick auf die WM-Vergabe an Saudi-Arabien, die am 11. Dezember auf einem außerordentlichen FIFA-Kongress festgezurrt werden soll, auf die "erschreckende Menschenrechtsbilanz" vor Ort hin. Mit Kampagnen im Sport habe man im Königreich versucht, "von diesen desolaten Bilanzen abzulenken". Doch das Ende der Fahnenstange ist laut Amnesty International noch gar nicht erreicht. "Der Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch dürfte viele Menschenrechtsverletzungen weiter gesetzlich verankern", so die Organisation weiter.

DFB sollte ein Ausrufezeichen setzen

Und nicht zuletzt hat auch die FIFA in ihren Statuten und in ihrem Prozess zur WM-Vergabe eigentlich ein Bekenntnis zur Menschenwürde festgeschrieben. Auch wenn FIFA-Boss Gianni Infantino offen einräumte, dass das Ganze "ein Prozess" sei und man gemeinsam mit dem Königreich nach Lösungen suche.

Das Gute ist: Die WM findet "erst" in zehn Jahren statt. Das ist einerseits ein Vorteil, weil noch Zeit bleibt. Andererseits ist genau jetzt der Moment, um auf die Wichtigkeit von Menschenrechten und die Missstände in Saudi-Arabien hinzuweisen. Das hat auch Matthäus erkannt, der bei RTL sagte: "Wir müssen den Finger in die Wunde legen." 

Mit konkretem Blick auf die WM müsse man dann allerdings "für einige Wochen gewisse Dinge hinten dran lassen und den Fußball in den Vordergrund stellen. Das ist mein Appell an die Deutschen!", schloss Matthäus.

Damit man aber genau das mit einem guten Gewissen tun kann, ist jetzt die Zeit für ein Ausrufezeichen. Dieses könnte unter anderem darin liegen, die WM-Vergabe nach Saudi-Arabien nicht einfach kommentarlos durchzuwinken.