Rätselraten um Frankreichs bizzaren Sommerkick

Superstar Kylian Mbappé ist (mit Maske) zurück, trifft – und trotzdem bleibt die französische Nationalmannschaft ein riesiges Rätsel und verpasst auch im dritten Gruppenspiel der Fußball-EM 2024 den Befreiungsschlag. Gegen die Polen um Robert Lewandowski und den überragenden Torhüter Lukasz Skorupski fällt der Équipe Tricolore beim 1:1 erstaunlich wenig ein.
Schwarze Maske und knapp 30 Grad - das passt nicht gut zusammen. Also riss Kylian Mbappé sofort nach seinem verwandelten Elfmeter in der 56. Minute den Nasen- und Gesichtsschutz herunter und jubelte mit den französischen Fans, die auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions Platz gefunden hatten.
Endlich strahlte der Mann, der zu diesem Maskenball mit den bereits ausgeschiedenen Polen geladen hatte. Relativ überraschend brachte Coach Didier Deschamps den Stürmer-Star von Beginn an. Wieder Spielpraxis sammeln, an die Maske im Stresstest gewöhnen, lautete das Motto. Beim EM-Auftakt gegen Österreich (0:0) hatte sich Real Madrids Sommer-Zugang das Nasenbein gebrochen. Sein Einsatz im Gruppenfinale galt lange Zeit als offen.
Wirkliche Impulse setzte der 25-Jährige zunächst nicht. Die polnische Auswahl hatte sich mit einer verdichteten Fünferkette zurückgezogen, igelte sich in der eigenen Hälfte ein und bot dem Weltmeister von 2018 nur sehr wenig Platz. Dafür, dass die Équipe Tricolore mit Offensivkünstlern wie Ousmane Dembélé, Mbappé und Bradley Barcola gesegnet ist, fiel ihr erstaunlich wenig ein.
Der Ex-Dortmunder Dembélé zeigte an seiner alten Wirkungsstätte viel Einsatz auf der rechten Seite, überwand mit seiner Geschwindigkeit und Dribbelstärke oft die erste Kette, wirklich zwingend waren seine Aktionen aber nicht.
Fußball-EM 2024: Kylian Mbappé hantiert immer wieder an der Maske
Und Mbappé? Der Superstar stand meist in vorderster Linie, ließ sich ab und an zurückfallen und wartetet dann vor dem Sechzehner auf seinen Einsatz. Immer wieder blitzten seine unglaublichen Fähigkeiten auf, ein Haken hier, eine Ballmitnahme da. Große Probleme schien ihm seine Nasenverletzung nicht zu machen. Trotzdem fummelte und hantierte er immer wieder an der Carbon-Maske herum. Wenn genug Zeit da war, zog er sie angesichts des warmen Wetters im Ruhrpott sogar ganz ab.
Mbappé, der seine Mannschaft als Kapitän aufs Feld führte, war gleich wieder der größte Aktivposten Frankreichs. Gegen Ende der Halbzeit testete er mehrmals den starken polnischen Keeper Skorupski. Es mangelte in den Abschlüssen aber noch an der Präzision, die man von Mbappé eigentlich kennt und erwartet. Aktiv war er aber vor allem eben auch an der Maske und im Zwiegespräch mit seinem Trainer Deschamps, Mitspielern und auch dem Schiedsrichter. In der ersten Trinkpause suchte er das Gespräch mit Dembélé und Antoine Griezmann, der das Spiel zunächst von der Bank anschaute. Lösungen ergaben diese Dialoge offenkundig nicht.
Stattdessen spielten die Polen nun munter mit und suchten mehr und mehr ihren Weg in die Offensive. In der zweiten Halbzeit schien es, als hätte Mbappé einen Weg durch den polnischen Beton gefunden. Aber Skorupski erwies sich weiter als Kryptonit des Maskenmanns.
Privatduell Mbappé vs. Skorupski
Die Partie entwickelte sich nun fast zu einem Duell zwischen Mbappé und dem Keeper, der sich aber mit einer Parade nach der anderen auszeichnete. Ob in der Luft oder im Eins-gegen-Eins – der Stammkeeper des italienischen Überraschungsteams FC Bologna war stets Endstation.
Immer wieder zog er Mbappé den Zahn und sahnte später zu Recht die Auszeichnung als Man of the Match ab. Nur beim Elfmeter blieb Skorupski chancenlos. Nachdem der polnische Verteidiger Jakub Kiwior Dembélé im Sechzehner gelegt hatte, verlud Mbappé den Torwart und schob lässig ein. Maske ab. Jubel an.
Die Erlösung? Überhaupt nicht. Rien. Denn der französische Knoten im EM-Spiel platzte einfach nicht. Was Les Bleus anboten, war biedere Kost und in weiten Teilen einfallslos. Weit weg von einer Fußball-Finesse. Eher Laissez-faire. Daran änderten auch die Einwechslungen von Eduardo Camavinga, Griezmann und Olivier Giroud nicht viel.
Mehr im Sitzen denn Stehen und Dirigieren beobachte Deschamps die Partie. Die Kritik an seiner Spielweise wird nicht leiser werden nach diesem Auftritt.
Fußball-EM 24: Frankreich nun in der wohl schwierigeren Hälfte
Frustriert sei er nicht, sagte er nach dem Spiel. "Natürlich wollten wir Erster werden, aber dazu mussten wir gewinnen.“ Die Chancen, die man erarbeitet habe, seien eben von Skorupski vereitelt worden. So einfach ist das manchmal.
Nicht ganz so einfach war der Abend für Lewandowski. Der langjährige Torjäger des FC Bayern erlebte in der Schlussphase kuriose Minuten und erzielte per Umweg den Ausgleich.
Nach einem VAR-Check zeigte Referee Marco Guida auf den Punkt (76.). Robert Lewandowski hoppelte wie aus der Bundesliga noch in bester Erinnerung mit Verzögerung in den Elfer-Anlauf, Frankreichs Torwart Maik Maignan wehrte locker ab.
Doch der VAR griff nochmal ein. Ergebnis des Checks: Maignan hatte sich zu früh von der Linie nach vorne bewegt. Im nächsten Anlauf machte Lewandowski es besser, weil präziser und egalisierte den Mbappé-Treffer.
Plötzlich drückte das Stadion, die polnischen Fans machten mächtig Lärm. Beinahe schoss Lewandowski die Franzosen vollends k.o. – was aber auch zu viel des Guten gewesen wäre. Und so schimpfte Mbappé in den letzten Minuten viel vor sich hin, wohl selbst enttäuscht von der Leistung des Teams. Die Laune wurde selbstredend nicht besser, als ihn Lewandowski auch noch unabsichtlich an der Maske traf.
Weil Österreich im Parallelspiel gegen die Niederlande mit 3:2 gewann, belegt Frankreich Rang zwei der Gruppe D. Das erklärte erste Ziel Gruppensieg ist also verfehlt. Das Team wirkte auch mit dem zurückgekehrten Mbappé wie ein gedrosselter Highend-Ferrari, der nicht ausgefahren wird. Ein unterwältigender Auftritt des wohl größten Titelfavoriten vor dieser EM. Dieses Label sind sie nun wohl los. Nur die ebenfalls lustlosen Engländer enttäuschen wohl auf ähnliche Weise wie Frankreich.
Didier Deschamps: "Jetzt geht der Wettkampf neu los"
Und es bleibt dabei: Frankreich kann das dritte Gruppenspiel bei einem Turnier nicht gewinnen. Seit 2008 gab es für Les Bleus keinen Sieg mehr im finalen Vorrunden-Auftritt. Beim letzten EM-Turnier 2021 folgte danach das peinliche Aus gegen die Schweiz.
Nun ruckelt der Frankreich-Ferrari ins Achtelfinale gegen den zweiten der Gruppe E (Rumänien, Belgien, Slowakei und Ukraine haben jeweils drei Punkte) und steht in der vermeintlich stärkeren Hälfte des Turnierbaums mit Spanien, Portugal und Deutschland.
"Wir müssen den zweiten Platz akzeptieren", betonte Deschamps und machte damit einen Haken ans Abschneiden in der Gruppe. "Jetzt geht der Wettkampf neu los."
Die Laune bei Comebacker Mbappé war indes getrübt. Glücklich sah er beim Verlassen des Feldes nicht aus.
Nach kurzem Durchschnaufen lief er noch mit der Maske im Gesicht schnurstracks auf die polnischen Gegenspieler zu, zollte Keeper Skorupski mit Shakehands Respekt.
Das Privatduell endete ohne Sieger. Die beiden Akteure des Spiels verabredeten sich aber noch zum Trikottausch.
Emmanuel Schneider, Dortmund