01.07.2024 16:54 Uhr

Wo ist Spanien stark - und wo anfällig?

Spanien trifft im EM-Viertelfinale auf die deutsche Nationalmannschaft
Spanien trifft im EM-Viertelfinale auf die deutsche Nationalmannschaft

Während andere große Fußball-Nationen bei der EM straucheln oder weit von ihrer Bestform entfernt sind, dominiert Spanien seine Gegner beinahe nach Belieben und ist der große Turnierfavorit. Die deutsche Nationalmannschaft steht im Viertelfinale am Freitag (18:00 Uhr) vor einer Mammutaufgabe. Was macht den Gegner so bärenstark? Wo ist Spanien anfällig?

Die Gruppenphase überstanden die Spanier mit drei Siegen gegen Kroatien (3:0), Italien (1:0) und Albanien (1:0) und ohne ein einziges Gegentor. Das bislang einzige setzte es im Achtelfinale gegen die tapferen Georgier (4:1), jedoch war es ein Eigentor von Innenverteidiger Robin Le Normand.

Respektvoll bezeichnete Trainer Luis de La Fuente die DFB-Elf als eine "Fußballmacht", machte aber auch deutlich: "Ich finde, dass wir die beste Mannschaft der Welt haben. Wir haben die besten Spieler, aber das heißt nicht, dass wir gewinnen."

Einen großen Sieg gegen Deutschland feierte der 63-jährige Trainer bereits: Bei der U21-EM 2019 besiegte seine Mannschaft die DFB-Auswahl im Endspiel mit 2:1.

Bei der laufenden Endrunde ist Spanien der größtmögliche Härtetest für die deutsche Mannschaft. Was macht die "Furia Roja" so stark? Gibt es überhaupt Schwachpunkte? 

Kontrolle und dribbelstarke Außenstürmer

Die spanische Devise lautet wie eh und je "Ballbesitz und Kontrolle", allerdings nicht (mehr) um jeden Preis. Denn von Erfolg geprägt war dieser Fußball in den vergangenen Jahren nicht.

Seit dem EM-Titel 2012 erreichten die immer zum Favoritenkreis gehörenden Spanier nur noch ein Halbfinale. Bei der EM 2021 scheiterte man gegen den späteren Europameister Italien im Elfmeterschießen.

So haben die Spanier im Turnierverlauf mit 60 Prozent lediglich den dritthöchsten Ballbesitz hinter Viertelfinal-Gegner Deutschland (66 Prozent) und Portugal (67).

Nicht erst unter de la Fuente, der Ende März 2023 das Amt des Nationaltrainers übernahm, hat Spanien eine entscheidende Komponente forciert - das Spiel über die Außen:

  • Nico Williams und Lamine Yamal als gefürchtete Dribbler: In der jüngeren Vergangenheit gehörten die Flügelspieler nicht unbedingt zu den entscheidenden Figuren bei den Spaniern. Das ist nun ganz anders: 100 Dribblings (EM-Höchstwert) stehen in der Statistik. Beinahe die Hälfte gehen auf das Konto der Außenspieler Nico Williams (24) und Lamine Yamal (25). Wie gefährlich das junge Duo ist, zeigen nicht nur die jeweils zwei Torbeteiligungen. Williams steuerte beim 4:1 über Georgien einen Assist (zum 1:1 von Rodri) sowie den Treffer zum zwischenzeitlichen 3:1 bei. Er wird Joshua Kimmich in der deutschen Defensive ständig fordern. Auf der rechten Offensivseite der Spanier stürmt der erst 16-jährige Lamine Yamal vom FC Barcelona, der mit seinem Einsatz am 1. Spieltag gegen Kroatien zum jüngsten EM-Spieler aller Zeiten avancierte. Yamal lieferte im Turnierverlauf nicht nur zwei Torvorlagen, sondern ist auch der Spanier mit den meisten Ballkontakten im gegnerischen Sechzehner (21) und den meisten Torschussvorlagen (11). Zudem leitete kein Spieler bei der EM mehr Großchancen ein (4).

  • Zentrales Mittelfeld als Herzstück: In Szene setzt die beiden Tempodribbler allerdings immer wieder das starke zentrale Mittelfeld, in dem Rodri - der aktuell vielleicht beste Spieler der Welt auf seiner Position - und der torgefährliche Fabian Ruiz (vier Treffer in seinen letzten fünf Länderspielen) das spanische Ensemble dirigieren. Zusammen mit dem kongenialen Pedri ist die spanische Mittelfeldreihe wohl die bislang stärkste im Turnier und brilliert ähnlich wie zu Welt- und Europameisterzeiten Xavi, Andres Iniesta und Sergio Busquets. Das Herz der Spanier schlägt also weiterhin in der Zentrale. Auffällig ist auch die Zweikampfstärke der Erfolgsgaranten: Rodri gewinnt bei der EM für seine Position herausragende 70 Prozent seiner direkten Duelle, Ruiz immerhin noch starke 64 Prozent.

Fußball-EM 2024: Ist das die spanische Schwachstelle?

In der Rückwärtsbewegung allerdings könnte Spanien gegen die zielstrebigen Deutschen Probleme bekommen, denn trotz nur eines Gegentreffers ist hier nicht alles Gold, was glänzt.

Die Viererkette bestehend aus Marc Cucurella, Aymeric Laporte, dem international unerfahrenen Robin Le Normand sowie Routinier Dani Carvajal gehört im Vergleich zum Mittelfeld nicht zur absoluten internationalen Spitzenklasse, genauso wenig wie Torhüter Unai Simon. 

  • Deutsche Chance nach spanischen Ballverlusten: Ein Paradebeispiel lieferte Georgien, das sein Führungstor nach einem spanischen Ballverlust durch blitzschnelles Umschalten erzielte. Spaniens Außenverteidiger stehen im eigenen Ballbesitz derart hoch, dass sich bei unerwarteten Ballverlusten große Lücken auftun. Dass bisher nur ein Gegentor passierte, lag eher an der eigenen Dominanz und Passsicherheit als an einer herausragenden Abwehrarbeit. Einen Hinweis darauf ergeben auch die Zahlen: Der Expected-Goals-Wert für die spanischen Gegner lag im Turnierverlauf bei 3,27, zudem ließen die Iberer immerhin 34 gegnerische Abschlüsse zu. Zum Vergleich: Bei Deutschland waren es nur 27.

Deutsche Horror-Bilanz gegen Spanien

Die Spanier sind sich dennoch ihrer eigenen Stärke bewusst. "Ich bin überzeugt davon, dass sie nicht so glücklich sind, jetzt auf uns zu treffen", meinte Rodri zum bevorstehenden Gipfeltreffen mit den Gastgebern.

Und dann wäre da noch die jüngste Bilanz in Pflichtspielen: Seit 36 Jahren verlor Spanien kein Duell gegen Deutschland, wenn es um etwas ging.

Hoffnung für das DFB-Team macht, dass die "Furia Roja" diese Niederlage damals ebenfalls bei einer EM in Deutschland hinnehmen musste: mit 0:2 im Münchner Olympiastadion durch einen Doppelpack des heutigen DFB-Sportdirektors Rudi Völler.

Lars Wiedemann