24.01.2022 21:52 Uhr

Die Wahrheit über Stuttgarts "30-Prozent-Elfmeter"

SC Freiburg vs. VfB Stuttgart: Tobias Stiel schaute sich die Szene auf dem Bildschirm
SC Freiburg vs. VfB Stuttgart: Tobias Stiel schaute sich die Szene auf dem Bildschirm

"Collinas Erben" analysieren SC Freiburg vs. VfB Stuttgart: Bei diesem Spiel entscheidet der Unparteiische auf Strafstoß für den VfB Stuttgart, nimmt die Entscheidung jedoch zurück, nachdem er sich das vermeintliche Foul noch einmal angesehen hat. Diese Überprüfung geschieht aus eigenem Antrieb, was ungewöhnlich ist. Transparent gemacht wird sie erst von einem Schiedsrichterkollegen.

Nach dem Schlusspfiff der Partie zwischen dem SC Freiburg und dem VfB Stuttgart (2:0) stand vor allem eine Szene aus der 34. Minute im Mittelpunkt der Spielanalysen. Als noch keine Tore gefallen waren, drang der Stuttgarter Alexis Tibidi mit dem Ball am Fuß nach mehreren Übersteigern gegen Lukas Kübler in den Strafraum der Gastgeber ein und wollte links an seinem Freiburger Kontrahenten vorbeiziehen. Doch er blieb an Küblers rechtem Fuß hängen und ging zu Boden. Ohne jedes Zögern entschied Schiedsrichter Tobias Stieler auf Strafstoß für den VfB.

Dabei sollte es allerdings nicht bleiben. Denn nach einer Verständigung mit dem Video-Assistenten Sven Jablonski lief Stieler zum Spielfeldrand und schaute sich die Szene auf dem Monitor an. Es dauerte nicht lange, dann kehrte der Unparteiische auf das Feld zurück und revidierte seine Entscheidung. Statt mit einem Elfmeter für die Gäste ging es mit einem Schiedsrichterball weiter. Das verärgerte die Stuttgarter sehr. „Den zurückzunehmen, ist unfassbar, völlig irrsinnig", echauffierte sich Sportdirektor Sven Mislintat. Schließlich habe keine klare Fehlentscheidung vorgelegen.

Die Argumente gegen einen Strafstoß wiegen schwerer …

Ähnlich sah es VfB-Trainer Pellegrino Materazzo. Er hätte "nichts gesagt", wenn der Elfmeterpfiff in erster Instanz ausgeblieben wäre, beteuerte er. Schließlich sei es aus seiner Sicht nur zu "30 bis 35 Prozent ein Elfmeter" gewesen – damit aber genug, um die Entscheidung nicht für eindeutig falsch zu halten und ändern zu müssen. Das war der Kern der Stuttgarter Argumentation: Mochte schon sein, dass man den Fußkontakt zwischen Kübler und Tibidi nicht zwingend als ahndungswürdig bewerten musste – so abwegig, dass sich der VAR einschalten musste, war der Elfmeterpfiff aber auch wieder nicht, fand man bei den Schwaben.

Tatsächlich kann man über die Entscheidung streiten. Kübler hatte seinen Fuß bereits vor dem Kontakt abgestellt, sein Bein nicht ausgefahren und Tibidi nicht angegriffen. Ein klassisches Beinstellen lag damit nicht vor. Andererseits hatte sich der Freiburger ein kleines Stück in Tibidis Laufweg begeben und den Ball nicht gespielt. Ob man das für ausreichend hält, um Kübler für den Fußkontakt verantwortlich zu machen, durch den der Stuttgarter zu Fall kam, ist letztlich eine Ermessensfrage. Alles in allem wiegen die Argumente gegen einen Elfmeter aber schwerer, weil Kübler nicht aktiv den Sturz von Tibidi herbeigeführt hatte.

… aber klar falsch war der Elfmeterpfiff nicht

Keinen Strafstoß zu geben, war damit die bessere Entscheidung; die Elfmeterberechtigung auf 30 bis 35 Prozent zu taxieren, wie Materazzo es tat, ist angemessen. Bei einem Spiel auf UEFA-Ebene wäre ein VAR-Eingriff in dieser Situation nicht in Betracht gekommen, denn dort gilt, etwas vereinfacht formuliert, die Maßgabe: Nur wenn gar kein Kontakt nachzuweisen oder eindeutig der Ball gespielt worden ist, erfolgt eine Intervention; andernfalls liegt kein klarer und offensichtlicher Fehler des Unparteiischen vor. In der Bundesliga dagegen sind die Video-Assistenten gehalten, weniger schematisch mit solchen Entscheidungen umzugehen.

Da der VAR aber auch in Deutschland nicht dazu da ist, dem Referee zur besseren von zwei möglichen Entscheidungen zu verhelfen, ist es nachvollziehbar, dass die Stuttgarter sich über das On-Field-Review beschwerten, das zur Rücknahme des Elfmeterpfiffs führte. Zumal es vonseiten der sportlichen Leitung der Unparteiischen die Direktive an die VAR gibt, die Eingriffsschwelle hoch zu halten. Wann ein eindeutiger Fehler vorliegt, ist bei Entscheidungen zu Zweikämpfen und Handspielen zwar oft notwendigerweise subjektiv. Wenn eine bewusst getroffene Entscheidung aber zumindest mit Bauchschmerzen noch zu vertreten ist, also kein völliger Wahrnehmungsirrtum vorliegt, soll keine Intervention erfolgen.

Das Review ging ausnahmsweise vom Referee selbst aus

Gemessen daran wäre die Eingriffsschwelle beim Spiel in Freiburg eher niedrig gewesen – wenn das On-Field-Review denn vom Video-Assistenten ausgegangen wäre. Doch offenbar verhielt es sich anders, wie Schiedsrichter Deniz Aytekin am Sonntag in der Talksendung "Sky90" erklärte. Er berichtete, sein Kollege Tobias Stieler habe ihm bei einem Telefongespräch gesagt, er selbst habe das Review initiiert, weil ihn nach seiner Elfmeterentscheidung Zweifel beschlichen hätten. Nach einem Austausch mit VAR Sven Jablonski lief Stieler demnach aus eigenem Antrieb zum Monitor.

Das VAR-Protokoll erlaubt ein solches Vorgehen ausdrücklich. Der Schiedsrichter kann in den reviewfähigen Situationen – also wenn es um ein Tor, einen Strafstoß, eine Rote Karte oder eine Spielerverwechslung geht – von sich aus ein On-Field-Review durchführen, beispielsweise wenn er vermutet, etwas Wesentliches übersehen oder falsch wahrgenommen zu haben. Dazu kommt es allerdings nur selten. In der vergangenen Saison wurden, so hat es die sportliche Leitung der Bundesliga-Schiedsrichter bei einem Medien-Workshop im Oktober 2021 bekannt gegeben, lediglich etwa fünf Prozent der On-Field-Reviews vom Unparteiischen selbst initiiert.

Transparenz hätte den Ärger eindämmen können

In rund 95 Prozent der Fälle war es dagegen der VAR, der dem Referee ein Review empfahl. Diese stark ungleiche Verteilung ist logisch, denn gerade spielrelevante Entscheidungen – und dazu gehört der Strafstoß – treffen die Schiedsrichter prinzipiell nur dann, wenn sie sich absolut sicher sind. Überkommen einen Unparteiischen nach einer solchen Entscheidung ausnahmsweise doch einmal Zweifel, dann kann er den Video-Assistenten aus eigener Initiative bitten, ihm die Szene zu zeigen. Am Monitor bewertet der Schiedsrichter sie noch einmal neu, wobei er seine ursprüngliche Entscheidung nur ändern wird, wenn er davon überzeugt ist, falsch gelegen zu haben.

Das hat Tobias Stieler getan und dabei eine in mehrerlei Hinsicht mit Zweifeln behaftete, aber noch akzeptable Entscheidung durch eine bessere ersetzt. Vielleicht wäre es angesichts des eher ungewöhnlichen Vorgehens in dieser Situation sinnvoll gewesen, den Ablauf zumindest nach dem Spiel in irgendeiner Form transparent zu machen. Es hätte womöglich auf Stuttgarter Seite die Akzeptanz für die Entscheidungsänderung erhöht. Und den Ärger eingedämmt.

Alex Feuerherdt