01.06.2024 09:55 Uhr

Warum Essen-Spielmacher Harenbrock ein "Hidden Hero" ist

Essens Cedric Harenbrock könnte laut einem Algorithmus eine Bundesliga-Karriere winken
Essens Cedric Harenbrock könnte laut einem Algorithmus eine Bundesliga-Karriere winken

Das Start-up Goalimpact bewertet Fußballer basierend auf deren Einfluss auf den Mannschaftserfolg. Die Macher des Algorithmus identifizieren unentdeckte Helden. Der nächste könnte ein Profi aus Essen sein.

"Fußball ist keine Mathematik", hat Karl-Heinz Rummenigge vor Jahren als Botschaft dem Trainer und Mathematiker Otmar Hitzfeld mit auf den Weg gegeben. Dass das stimmt, bestätigt auch Jörg Seidel, der Gründer des Spieler-Rating Algorithmus Goalimpact. "Fußball ist tatsächlich keine Mathematik. Aber Mathematik ist eine Sprache. Und mit einer Sprache kann man alles beschreiben, auch den Fußball", sagt er im Gespräch mit sport.de.

Seidel ist ein Physiker und Finanzmathematiker. Auf eigene Faust hat einen Algorithmus entwickelt, mit dem Fußballer global und objektiv verglichen werden können. Bekannt geworden ist Seidels Ansatz im Buch "Matchplan" des Journalisten Christoph Biermann: "Biermann hat mich gefragt, wer der weltweit beste Spieler unter 17 Jahren ist. Ich habe daraufhin in unserer Datenbank nachgeschaut, und es war Alphonso Davies, als er, noch unter dem Radar, bei den Vancouver Whitecaps gespielt hat.

Biermann hat das in seinem Buch abgedruckt, eineinhalb Jahre später wechselte Davies dann zum FC Bayern München.

Per Knopfdruck lassen sich Spieler aus aller Welt vergleichen

Dabei hatte Seidel zunächst nur gebloggt und getweeted ohne einen konkreten Vertriebsgedanken. Das änderte sich schnell. "Mein erster Anruf aus England war der eines Top-4-Klubs, der eine eigene Statistik-Tochter betreibt", sagt er. "Mit der schloss ich einen Kooperationsvertrag, auf dessen Grundlage ich ein Jahr die besten Spieler aus dem Jugendbereich geliefert habe." In der Zwischenzeit sind weitere zehn Jahre Arbeit in den Algorithmus geflossen, der nun noch feiner ist.

Kontakte zu einem US-Private-Equity-Fonds, der einen Premier-League-Klub zu übernehmen plante, und zum chinesischen Erstligisten Shandong Luneng Taishan halfen Seidel, in der Branche Fuß zu fassen.

Vor rund zwei Jahren stieß der Chemiker Dr. Patrick May dazu. Er sagt: "Man trackt und misst im Fußball mittlerweile alles. Meist sind das beschreibende Daten wie Schnelligkeit oder Raumbesetzung. Mithilfe dieser Statistiken wird versucht abzuleiten, ob ein Spieler gut ist. Das hilft aber nicht zwingend, denn Fußball ist ein viel komplexeres Spiel."

Parameter wie Zweikampf- und Passquote, Laufleistung und absolvierte Sprints fließen bei Goalimpact nicht in die Wertung ein. Stattdessen wird der Einfluss des Spielers auf die Tordifferenz seines Teams gemessen und daraus ein Rating für den Spieler errechnet. Der Algorithmus wird dabei um Faktoren wie gegnerische Spieler, Mitspieler aber auch den Heimvorteil korrigiert. Letztendlich lassen sich so alle Spieler der Welt innerhalb von Sekunden miteinander vergleichen – auf Knopfdruck.

Die Datenbank umfasst inzwischen weltweit 1,2 Millionen Spieler aus mehr als tausend Ligen, deren Daten über den Karriere-Zeitraum in den Algorithmus eingespeist werden. In Deutschland reicht der Algorithmus hinunter bis in die Landesligen und U17-Bundesligen, aber exotische Ligen wie die ghanaische erste Liga finden sich in der Datenbank.

Faktoren wie Spielintelligenz spielen eine große Rolle bei der Bewertung

Mit ihrer rein datengetriebenen Methode identifiziert der Algorithmus vor allem auch "Hidden Heroes" – verborgene Helden, Spieler also, die bisher noch unter dem Radar laufen, deren Wirkung aufs Spiel der eigenen Mannschaft aber viel größer ist, als die Öffentlichkeit annimmt.

"In den fünf deutschen Regionalligen spielen etwa 3000 Spieler", sagt Seidel. "Wenn davon nur ein Prozent extrem gut ist, sind das immer noch 30 Spieler. Es wäre überraschend, wenn der Markt so effizient wäre, dass diese 30 Akteure immer alle über das gewöhnliche Scouting der Vereine gefunden werden."

Dass der Markt in seiner Getriebenheit Spieler bisweilen übersieht, davon sind Seidel und May überzeugt. "Je emotionaler ein Markt ist, desto mehr ist die Sichtweise emotional geprägt und somit potenziell verfälscht", findet May. "Das ist im Fußball besonders ausgeprägt. Spieler, die spektakulär spielen, fallen auf und werden deswegen positiver wahrgenommen." 

Für May und Seidel hingegen ist Fußball ein komplexes Spiel, in dem viele Aktionen eher unsichtbar bleiben. "Wenn ich als Spieler zum Beispiel zehn Sekunden vorher erkennen kann, ob ein Angriff Sinn ergibt und ich noch 20 Meter nach vorn laufe oder mich schon für das Gegenpressing positioniere, ist das am Ende unsichtbar, verlangt aber eine hohe Spielintelligenz", sagt May. Seidel sieht das ähnlich: "Schnelligkeit steht deshalb so sehr im Fokus, weil sie gut messbar ist. Andere, weniger gut messbare Aspekte wie etwa Spielintelligenz, sind in den Auswahlkriterien unterrepräsentiert. Genau die berücksichtigt unser Algorithmus aber automatisch mit."

Etliche "Hidden Heroes", die Goalimpact bereits vor ihrem Durchbruch hoch ratete, nennt May: "Kaoru Mitoma von Brighton ist so ein Fall. Kevin Behrens, Marvin Ducksch und Justin Njinmah waren nach Goalimpact deutlich zu gut für die 3. Liga und 4. Liga, als sie dort noch gespielt haben. Für Bremens Christian Groß hatten wir einen Rating-Wert, der ein Bundesliga-Level attestierte, damals spielte Groß allerdings noch für Werders U23."

RWE-Spielmacher Harenbrock mit Fähigkeiten für die Bundesliga

Und wer sind die nächsten Hidden Heroes? Goalimpact traut dem früheren deutschen U17-Nationalspieler Cedric Harenbrock von Rot-Weiss Essen, der bei Bayer Leverkusen ausgebildet wurde, deutlich mehr zu als die 3. Liga, in der der offensive Mittelfeldspieler bis jetzt spielt. "Sehr spannende Vita, hochintelligenter Spieler, antizipativ", sagt May. "Seit 2020 hat er sich drastisch verbessert, da geht der Chart nach oben."

Wie hoch genau? Laut Goalimpact sogar über das durchschnittliche Bundesliga-Level hinaus. May ist sicher: "Harenbrock ist ein Paradebeispiel für einen Hidden Hero."

Mehr als 25 Klubs hauptsächlich aus dem deutschsprachigen Raum haben mittlerweile einen Account erworben. Auch Berater gehören zu den Kunden und können Ratings ihrer Spieler für die Klubs sichtbar machen. Neben Harenbrock sind darunter auch Leon Krekovic vom polnischen Zweitligisten Kotwica Kolobrzeg, Dominik Akyol (Eimsbütteler TV), Niklas Jahn (1. FC Nürnberg II) und Moritz Kaube (FC Augsburg II) darunter, alle laut Goalimpact vom Markt unterbewertet.

Das Unternehmen expandiert. May, der seit Jahren eine Dauerkarte bei Borussia Dortmund hat, sagt: "Wir sehen uns als eine globale Rating-Plattform und sind jetzt an der Schwelle, den Fußballmarkt in Deutschland gut bedienen zu können." Seidel, von Hause aus Handballer, nennt das mittelfristige Ziel: "Wir etablieren uns als objektiver Informations-Broker für Spielerqualität, als Anker für Kauf- und Verkaufsentscheidungen und für Vertragsverlängerungen. Alle Parteien, die Transfers machen, sollen draufschauen und schnell entscheiden können, ob der Spieler im Gesamtpaket gut ist."

Durch ein Tippspiel unter Arbeitskollegen vor der EM 2004, bei dem Seidel Griechenland deutlich höher rankte als alle seine Kollegen, kam der Gründer überhaupt mit dem Fußball in Kontakt. Das ist nun 20 Jahre her. Jetzt scheint sein einstiges Hobby, Fußball mithilfe der Mathematik zu beschreiben, zu einem Business zu werden.