18.05.2020 17:18 Uhr

Darum wurde Herthas Jubel nicht bestraft

Die Stars von Hertha BSC freuten sich etwas zu ausufernd
Die Stars von Hertha BSC freuten sich etwas zu ausufernd

Weniger Diskussionen, weniger Theatralik und keine Belagerungen – ohne Zuschauer verhalten sich die Stars von FC Bayern, BVB, Schalke und Co. gegenüber den Schiedsrichtern gesitteter als sonst. Das ist ungewohnt für die Unparteiischen, wie auch viele andere Dinge an diesem ersten Geisterspieltag. Verstöße gegen die Hygienevorschriften müssen sie aber nicht sanktionieren.

Dass sich das alles ein bisschen angefühlt habe wie Kreisligafußball, ist ein Eindruck, der nach der Fortsetzung der Bundesligasaison am vergangenen Wochenende häufig formuliert wurde. In erster Linie lag das natürlich an der Abwesenheit von Zuschauern, wodurch es von den Tribünen keinerlei Reaktionen auf das Spielgeschehen gab, keinen Jubel, keine Flüche, keine Gesänge, keine Anfeuerungen und keine Pfeifkonzerte. Man konnte deshalb die Rufe und Kommandos auf dem Feld und von den Bänken gut hören, und wenn ein Ball ans Torgestänge knallte, war das daraus resultierende Geräusch viel deutlicher zu vernehmen als sonst. Auch die Pfiffe des Schiedsrichters wurden nicht vom Lärm gedämpft, sondern klangen schrill und schneidig.

Die Kreisligaatmosphäre rührt aber auch daher, dass einige Gepflogenheiten an den unterklassigen Amateurfußball erinnern: Statt gemeinsam einzulaufen, gehen beide Mannschaften und das Schiedsrichterteam aus Gründen des Infektionsschutzes getrennt voneinander auf dem Platz. Es gibt kein Aufstellen, kein Begrüßungszeremoniell, und auch der Münzwurf, mit dem über Seitenwahl und Anstoß entschieden wird, sieht ein bisschen so aus wie auf den Aschenplätzen der Republik: Der Schiedsrichter führt ihn ohne Assistenten und in aller Schnelle mit den Kapitänen durch. Wo sonst ein Mikrofon den Smalltalk während des Rituals einfängt, sich alle Beteiligten am Ende abklatschen und der Unparteiische in die Kamera zwinkert, geht es nun bürokratisch-schnöde zu.

Auch für die Schiedsrichter ist es natürlich ungewohnt, ein Spiel vor leeren Rängen zu leiten, wobei sie diese Situation zumindest noch aus den Anfängen ihrer Karriere gut kennen. Denn jeder von ihnen hat einmal ganz unten angefangen, wo nahezu niemand zusieht. In Videokonferenzen sind die Referees von ihrer sportlichen Leitung um Lutz Michael Fröhlich auf die „Geisterspiele“ vorbereitet worden: darauf, wie das aussieht und sich anhört; darauf, dass man im Fernsehen hört, was sie zu den Spielern sagen; und darauf, was sich am Verhalten der Spieler ihnen gegenüber ändern könnte.

Quasi kein Protest bei möglichem BVB-Elfmeter

Mit Blick auf den zuletzt genannten Aspekt lässt sich zumindest für diesen Spieltag festhalten: Es gab weniger Diskussionen, weniger Proteste, weniger Schauspielerei und weniger Theatralik. Wenn kein Publikum zugegen ist, das sich gegen den Unparteiischen aufbringen lässt und ihn somit auch nicht beeinflussen kann, sparen sich manche Spieler und Trainer ganz offensichtlich das Reklamieren, Debattieren und Simulieren. Vielleicht ist so mancher aber auch gehemmt, weil er weiß, dass die Mikrofone zumindest jedes laut gesprochene Wort einfangen und dass das Vortäuschen einer Verletzung vor verwaisten Tribünen noch lächerlicher wirkt als bei vollem Haus.

Eine – im Übrigen korrekte – Entscheidung wie die von Schiedsrichter Deniz Aytekin im Revierduell zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 (4:0), das Handspiel des Schalkers Jonjoe Kenny im eigenen Strafraum nach zehn Minuten beim Stand von 0:0 auch nach Rücksprache mit dem Video-Assistenten nicht mit einem Strafstoß zu ahnden, hätte in einem ausverkauften Westfalenstadion vermutlich für Diskussionen gesorgt. Nun erregte die Szene praktisch niemanden. Auch der ebenso berechtigte Elfmeterpfiff von Bastian Dankert für den FC Bayern München im Spiel bei Union Berlin (2:0) hätte die Alte Försterei sonst laut werden lassen. Jetzt aber gab es keinerlei Lamento.

Dauerte die Überprüfung einer Szene durch den Video-Assistenten einmal länger wie etwa in den Begegnungen in Köln und Berlin, wo es jeweils um knappe Abseitssituationen ging, dann gab es nicht das übliche Umringen des Unparteiischen nebst vernehmlichem Murren und "Ihr macht unseren Sport kaputt"-Gesängen der Fans, sondern geduldiges Schweigen und Abwarten. Bevor ein falscher Eindruck entsteht: Niemand mag Spiele ohne Zuschauer, auch die Unparteiischen nicht. Aber sollte es an den weiteren Spieltagen unter Corona-Bedingungen ähnlich gesittet und sportlich fair zugehen, wäre das ein gutes Vorhaben auch für die Zeit, in der das Publikum wieder zugelassen ist.

Warum Felix Brych in Augsburg pfeifen durfte

Generell war für die Schiedsrichter vieles anders. So hätte etwa Felix Brych normalerweise kein Spiel des FC Augsburg pfeifen dürfen, weil der Klub genauso zum Bayerischen Fußballverband gehört wie er selbst. Doch weil die Unparteiischen nun prinzipiell erst am Spieltag anreisen sollen, mit dem Auto und getrennt von ihren Assistenten, ermöglicht man ihnen kürzere Wege. Deshalb hat der DFB vorübergehend „die Landesverbandsneutralität der Schiedsrichter aufgehoben“, wie der Sachverhalt offiziell in Worte gekleidet wird. Nur Spiele in der eigenen Stadt oder der unmittelbaren Nähe ihres Wohnortes werden die Referees nicht leiten. Brych wird also nicht die Bayern vor die Pfeife bekommen und Manuel Gräfe nicht Hertha BSC oder Union Berlin.

Alle Schiedsrichter, Assistenten und Vierten Offiziellen sind am Tag vor ihrem Einsatz noch einmal auf das Sars-CoV-2-Virus getestet worden, die Testergebnisse lagen spätestens um 10 Uhr am Spieltag vor. Das ist auch der Grund, warum der DFB so spät bekanntgibt, wer wo pfeift: Zunächst werden die Laborergebnisse abgewartet. Sollte ein Teammitglied positiv getestet werden, wird es kurzfristig ersetzt. Zu diesem Zweck hält die sportliche Leitung der Unparteiischen eine kleine Reserve bereit, die ebenfalls getestet wird und bei Bedarf einspringen kann. Das Testverfahren wird vor jedem Einsatz wiederholt.

Keine Schwierigkeiten gab es mit der geänderten Regelung bei den Auswechslungen, dabei herrschte noch kurz vor dem "Re-Start" ein wenig Verwirrung. Grundsätzlich gilt: Aus Gründen der Belastungssteuerung angesichts des eng getakteten Spielplans dürfen nun vorübergehend fünf Spieler eingewechselt werden, wobei die Gelegenheiten dazu limitiert sind, um Spielverzögerungen vorzubeugen.

Die obersten Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab) hatten beschlossen, dass diese höchstens fünf Wechsel in maximal drei Spielunterbrechungen und zusätzlich in der Halbzeitpause vorgenommen werden können. Die DFL hatte abweichend davon zunächst festgelegt: drei Unterbrechungen inklusive Halbzeitpause. Erst am Freitagabend änderte sie diesen Beschluss und übernahm die Regelung des Ifab.

Hertha ignoriert DFL-Empfehlungen, wird aber nicht sanktioniert

Die Trainer der Bundesligisten nutzten die Erweiterung des Auswechselkontingents weidlich: In den bisherigen acht Begegnungen brachten acht von ihnen alle fünf möglichen Spieler, fünf Coaches wechselten viermal und drei nur dreimal. Vier Übungsleiter nutzten sowohl die Halbzeitpause als auch drei Spielunterbrechungen zum Tauschen. Herthas neuer Trainer Bruno Labbadia und sein Mainzer Kollege Achim Beierlorzer schickten in einer Unterbrechung gleich drei frische Spieler auf den Rasen, womit sie eine Empfehlung der DFL ignorierten, die es gerne sähe, dass es maximal zu Doppelwechseln kommt.

Wohlgemerkt: Das ist keine Anordnung, sondern eben nur eine Empfehlung – genau wie jene, dass die Spieler beim Torjubel möglichst auf körperliche Nähe verzichten sollen. Anders als fast alle anderen Spieler, die Tore allenfalls mit einem kurzen Faust- oder Ellenbogenkontakt feierten, scherte die Hertha auch hier aus: Ihre Treffer beim 3:0-Sieg in Hoffenheim zelebrierten die Berliner fast genauso inniglich wie in Zeiten ohne Pandemie. Sanktionen haben sie allerdings nicht zu befürchten, eben weil die DFL zu einem anderen Verhalten lediglich rät.

Die Schiedsrichter wiederum sind ohnehin nicht gehalten, etwaige Verstöße gegen die Hygieneauflagen zu ahnden. Da das betreffende Konzept der DFL nicht Bestandteil der Fußballregeln ist, greifen sie auch nicht ein, wenn beispielsweise auf den Bänken die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes vernachlässigt wird. Die Unparteiischen haben genug damit zu tun, das Regelwerk umzusetzen – "und stehen wie immer vor der Herausforderung, über 90 Minuten mental total präsent zu bleiben, nicht einen Sekundenbruchteil abzuschalten", wie Deniz Aytekin nach dem Spiel in Dortmund gegenüber dem "kicker" sagte. Einfacher sei das ohne Zuschauer nicht unbedingt, fügte er an: "Es kann manchmal schon helfen, wenn auch von außen ein bisschen Leben reinkommt." Das seien die Referees schließlich gewohnt.

Alex Feuerherdt